Vor 40 Jahren, genau genommen am 5. Juli 1984, fand vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts Koblenz ein Prozess statt, gegen den Stabsarzt der Reserve, Carl Ebell.
Angeklagt wegen „Wehrkraftzersetzung“.
Insgesamt 127 Soldaten und Reservisten der Bundeswehr hatten bis dahin den Aufruf „Für den Frieden! Erklärung gegen den Krieg!“ unterschrieben.
Der Aufruf wurde 1980 von 56 aktiven und ehemaligen Soldaten der Bundeswehr initiiert und bundesweit bekanntgemacht.
Hintergrund für die Herausgabe des Aufrufs 1980 war die zugespitzte Weltlage (amerikanischer Landungsversuch im Iran und NATO- Doppelbeschluss, s. Text „Soldatenaufruf“).
Die Soldaten und Reservisten erklärten darin, dass sie nicht bereit wären, für die Interessen der Herrschenden in einen Krieg zu ziehen.
Das setzte die Verfolgungsbehörden in Bewegung.
Nach langer juristischer Verfolgung sollte nunmehr 4 Jahre später der presserechtlich Verantwortliche endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Unterzeichner des Soldatenaufrufs waren aber nicht gewillt, dass einer von ihnen herausgegriffen und stellvertretend für alle angeklagt wird.
Deshalb wurde eine Selbstanklage verfasst, indem sich die Unterzeichner der gleichen Vergehen bezichtigten, wie diejenigen, denen Carl Ebell angeklagt werden sollte.
Aber wie konnten die Soldaten und Reservisten beim Prozesstag es schaffen, auch auf die Anklagebank zu gelangen?
Es wurde geschafft (s. Erlebnisbericht „mit der roten Fahne ins Gericht“).
Eine einmalige Aktion, die es verdient nach 40 Jahren erinnert zu werden, zumal aktuell die Kriegsgefahr täglich mehr zunimmt und die Militarisierung der Gesellschaft zum offiziellen Programm der BRD ausgerufen wurde.
Wir dokumentieren die Aktion nicht, um in „alten“, nostalgischen Zeiten und Aktivitäten zu schwelgen, wir dokumentieren es genau deshalb, weil alles was damals gesagt wurde, nunmehr noch aktueller auf der Tagesordnung steht.
bh
Koblenz. Die größte Garnisonstadt der Bundesrepublik, ja ganz Westeuropas. 12.000 Soldaten in 9 Kasernen. Donnerstag, der 5. Juli: Heute findet der Prozess gegen den Stabsarzt der Reserve, Carl Ebell. wegen „Wehrkraftzersetzung“ vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts statt. Um 9 00 Uhr soll er beginnen. Um 8.30 Uhr warten schon 500 Menschen auf Einlass in den 35-Mann-Saal. Die Gerichtsverhandlung soll auf die Straße übertragen werden. 127 Soldaten und Reservisten der Bundeswehr haben den „Soldatenaufruf: Für den Frieden – Erklärung gegen den Krieg!“ unterschrieben. Einem, Carl Ebell, wird der Prozess gemacht. Wir Soldatenaufrufer haben erklärt, dass wir unseren Kameraden nicht alleine vor den Schranken des Gerichts stehen lassen werden. Wir haben eine Selbstanklage unterschrieben und öffentlich einen „Aufmarsch vor dem Landgericht angekündigt, mit dem wir die Selbstanklage überbringen wollen. In Uniform. Kampfanzug. Stahlhelm. Und doch soll der Marsch ganz anders sein, als im militärheiligen Koblenz gewohnt. Justizwachtmeister, Polizei, Bundesgrenzschutz, Feldjäger sind aufmarschiert, um den Marsch der Soldaten zu verhindern. Die Konfrontation der bewaffneten Mächte fand friedlich statt“, wird später in den Fernsehnachrichten der Reporter sagen. „Wie wollen die Soldaten das machen“, fragen mit Spannung die vor dem Gericht Versammelten. Um 8.45 Uhr fährt ein zwar großer, aber dennoch unscheinbarer Möbelwagen am Gerichtsgebäude vorbei, fährt die lange schnurgerade Straße hinab. Und hält. Die Klappe des Möbelwagens senkt sich. Ein Kommando: „Soldatenaufrufer stillgestanden! Im Gleichschritt marsch!“ Aus dem Möbelwagen marschieren wir. „Bumbarabum“, dröhnt die Landsknechtstrommel. Wir singen: „Wir lernten in der Schlacht zu stehen / in Sturm und Höllenglut / Wir lernten in den Tod zu gehen / nicht achtend unser Blut. / Und wenn sich einst die Waffe kehrt / auf die, die uns den Kampf gelehrt / sie werden uns nicht feige sehen / der Unterricht war gut.“ In der Mitte der ersten Reihe marschiert die rote Fahne. Zum ersten Mal seit 1918, seit der Novemberrevolution von Soldaten getragen. Die Überraschung ist vollkommen. Bevor das Polizistenauge begreift, was es sieht, bevor der Eingreifbefehl aus dem Munde kommt, bevor der BGS aus seinen Fahrzeugen herauskommt, bevor der Feldjäger zum Knüppel greifen kann, sind die Soldaten vor ihnen vorbeimarschiert. „Sie kommen, sie kommen“, schallt’s über den Gerichtsplatz. Hälse werden gestreckt. Fernsehkameras, Fotoapparate, Geräuschmikrofone fangen zum Laufen an. Ja, wirklich, sie kommen. Das Rot der Fahne hebt sich satt vom tristgrauen Morgen und den oliven Uniformen ab. Menschen, die demonstrieren, wenn Soldaten marschieren, jubeln jetzt, als Soldaten marschieren. Die Zivilisten bilden eine Gasse zum Gerichtstor. Die Justizwachtmeister sind die ersten Ordnungskräfte, die tätig werden. Sie verschließen die Gerichtspforte. „Abteilung halt!“ Wir stehen vor dem Gericht, auf dessen Anklagebank wir uns setzen wollen. Ausgesperrt! Wir halten unsere Selbstanklagen der Justiz entgegen. Die Justizwachtmeister und Polizisten sichern die Türe. Der BGS steht ungebraucht rum. Die Polizeiobern halten ratlos Konferenz. Räumen, nicht räumen. Räumen, nicht räumen? Mit jeder Minute wird die Position der Polizei unhaltbarer, festigt sich die Stellung der Soldatenaufrufer. „Zwei dürfen aus der Delegation ins Gericht hinein“, sagt der Anführer der Justizwachtmeister. „Alle oder keiner“, sagen wir. „Gut, keiner“, sagt die Justiz. „Das dauert länger Kameraden. Pause, Feuer frei“, sagt die Trommel. Gelassen können die Soldatenaufrufer ihre Zigaretten schmauchen. Die Konferenz hängt noch immer: Räumen, nicht räumen? Der Staatsanwalt soll entscheiden, soll der Polizei befehlen, zu räumen. Der Polizeiobere wackelt an den Zivilisten und Uniformierten vorbei, und vernimmt die Forderungen der Soldatenaufrufer: „Der Staatsanwalt hat unsere Selbstanklagen zu empfangen und wir ziehen geordnet ab.“ „Was? Abzug? Der Ausweg!”, frohlockt das blamierte Polizistenhirn. „Wird geklärt“, heißt’s laut und polizeilich knapp. Bald darauf greift der Trommler ans Megaphon und verkündet: „Kameraden! Der Staatsanwalt beugt sich unserer Forderung und nimmt persönlich die Selbstanklagen entgegen.“ Einzeln betreten wir zur Abgabe der Selbstanklagen das Gerichtsgebäude. Die rote Fahne zuerst. Die Polizeinüstern blähen sich auf, die Justizwachtmeisterhufe scharren verlegen auf dem Steinboden. Eine rote Fahne im Gerichtsgebäude hat es hier auch noch nicht gegeben. In Marschformation treten wir wieder vor dem Gebäude an. Rundfunk- und Fernsehinterviews. „Soldatenaufrufer stillgestanden! Im Gleichschritt marsch!“ Wir ziehen ab. Wir haben die Schlacht der „bewaffneten Mächte“ gewonnen. Vor dieser geschlossenen Front kann das Gericht nur erklären: „Freispruch.“ In der Nacht kleben schon überall die Plakate: „Marsch gelungen – Freispruch erreicht.“ Im übrigen haben wir bekräftigt: „Wird mit Alarm die Marschbereitschaft für den Krieg befohlen, marschieren wir nach Bonn.“