Liebe Ursula, liebe Ines, liebe Grit, liebe Katrin, liebe Anwesende,
wir haben uns heute versammelt, um Abschied von Rolf zu nehmen. Rolf war Ehemann, Vater, Verwandter – mir war er Genosse und Freund. Mein Name ist Sebastian Carlens und ich habe die Ehre, heute Rolf zu würdigen. Ursula und Rolf habe ich vor nunmehr fünfzehn Jahren kennengelernt, bei einer Veranstaltung in Göttingen. Rolf hat damals referiert, zu seinem Lebensthema, der Volksrepublik China natürlich. Wir haben noch etliche Veranstaltungen zusammen organisiert, und ich habe Rolf noch oft beim Vortrag erlebt – immer habe ich etwas Neues von ihm gelernt. Sein Enthusiasmus für die Leistungen des Neuen China, und seine Zuneigung zum chinesischen Volk – beides hat mich außerordentlich beeindruckt.
Rolf, ein Arbeitersohn aus dem sächsischen Chemnitz, wurde am 4. August 1938 geboren, unter dem Hitlerfaschismus, ein Jahr vor Beginn des Weltkrieges. Seine Familie war politisch bewusst und antifaschistisch eingestellt, Rolfs Eltern hatten unter der Verfolgung durch die Nazifaschisten zu leiden. Die Befreiung vom Faschismus, der Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik waren die Bedingungen, unter denen Rolfs Leben erfüllend werden konnte.
Die DDR eröffnete Arbeiterjugendlichen wie Rolf eine höhere Ausbildung und akademische Qualifikation. Ich möchte daran erinnern, dass Vergleichbares in den fünfziger Jahren in der BRD noch völlig unmöglich war, unter anderem deshalb, weil es noch hohes Schulgeld gab, das die Gymnasien und Universitäten zu reinen Stätten des Bürgertums machte. Auch das gehört untrennbar zur Geschichte beider deutscher Staaten.
Rolf konnte mit 14 Lebensjahren ab der neunten Klasse auf eine Oberschule mit angeschlossenem Internat nach Zwickau wechseln. Dort erhielt er eine fremdsprachliche Ausbildung in Russisch. Nach erfolgreichem Abschluss der 11. Klasse wurde Rolf zum studienvorbereitenden Jahr an die Arbeiter- und Bauernfakultät II (ABF) der Universität Halle/Wittenberg delegiert, wo er mit der Bestnote sein Abitur abgelegt hat. Hier lernte er Ursula kennen, die seine Frau werden und ihn sein ganzes Leben begleiten sollte.
Wie aber kam ein junger Mann aus der – in Anführungszeichen – Provinz der DDR ausgerechnet auf das entfernte China, über das damals in Europa doch sehr wenig bekannt war? Rolfs späterer Beruf und langjähriger Aufenthalt im Fernen Osten war nicht in Stein gemeißelt. Im Gegenteil, wenn es nach seinem eigenen Wunsch gegangen wäre, dann hätte Rolf nach dem Abitur ein Studium im damals neuen Fach Dialektischer Materialismus in Leningrad beginnen wollen. Der Studiengang bot eine interessante Mischung aus Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. Doch das Konzept war 1956 noch nicht fertig, Rolf bekam stattdessen einen anderen Vorschlag. Ihm wurde ein außenpolitischer Studiengang angeboten, unter anderem Chinesisch. Studienplätze gäbe es in Moskau, aber „auch Plätze in Beijing“, wurde ihm mitgeteilt. Rolf zögerte nicht lange und sagte zu: Für Beijing, nicht für Moskau. Die Sprache ließe sich doch im Lande selbst am besten lernen, war Rolf sich sicher. Der junge chinesische Staat hatte sich am 1. Oktober 1949, nur sechs Tage vor der DDR, gegründet. Es war, das konnte man später erkennen, genau die richtige Entscheidung und genau die richtige Möglichkeit für Rolf.
Es lief, das sei am Rande erwähnt, allerdings nicht immer so optimal mit der Kaderplanung wie in Rolfs Fall: Seiner Freundin Ursula, die ebenfalls im Ausland studieren wollte, wurde ausgerechnet eine Stelle in der Hochseefischerei in der Volksrepublik Polen offeriert – im weiteren Sinne ist der Ozean ja tatsächlich nicht zum Inland zu rechnen. Ursula, die aus dem küstenfernen Leipzig stammt, hat das zum Glück nicht hingenommen und protestiert. Mit Erfolg, sie bekam einen Platz im Studiengang „Außenhandel in der VR China“.
Ursula und Rolf konnten gemeinsam in China studieren, wenn auch an unterschiedlichen Instituten. Rolfs Erzählungen aus diesen harten, aber spannenden und lehrreichen Jahren haben mich immer fasziniert: Alle mussten überall mit anpacken. Die Studenten kamen in Mehrbettzimmern unter, immer Ausländer und Chinesen gemischt. Da konnten Kontakte geknüpft werden, außerdem erleichterte es das Erlernen der fremden Sprache enorm. Das Chinesische erfordert harte Übung und viel Fleiß – „vor allem für uns Sachsen“, wie Rolf immer meinte. Viele von Rolfs früheren Zimmerkameraden haben später, als Außenpolitiker Chinas, die Geschicke der Volksrepublik entscheidend mitgeprägt.
Auch Rolf und Ursula selbst sollten Zeugen und Mitgestalter des chinesischen Aufbruchs werden. 1959, zum zehnten Jahrestag der Volksrepublik, gehörte Rolf zu den Teilnehmern der großen Parade auf dem Tian-an-men-Platz in Beijing. Er lernte legendäre Zeitgenossen kennen: Den ersten chinesischen Premier Zhou Enlai; die Kundschafterin Ruth Werner („Sonja“); die Fotografin Eva Siao und ihren Mann Emi – Emi hat das Lied „Die Internationale“ ins Chinesische übersetzt. Rolf begleitete auch die Delegationen der DDR-Regierung, die ins befreundete China gereist sind. In dieser Zeit war der Austausch mit dem fernen Land in Asien in steter Intensivierung begriffen. Die DDR leistete Wirtschaftshilfe, und noch heute sind in China viele Fabriken und technische Ausrüstungen zu sehen, die damals ins Land kamen. Auch bei der Modernisierung der Landwirtschaft leistete der junge deutsche Staat den Freunden in Fernost Hilfe. Eine Zeit der Freundschaft und der Solidarität, die in China nicht vergessen ist. 1961 machte Rolf in China sein Staatsexamen. Schließlich ging es zurück in die DDR. Rolf nahm ein Zusatzstudium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg auf. Das Studium war nach einem guten Jahr beendet, denn im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten wurden China-Fachleute gesucht. Rolf begann als Mitarbeiter der Sektion China. Im Jahr 1962 wurde Ines, Ursulas und Rolfs erstes Kind, geboren. Die junge Familie wurde in Berlin heimisch, unter zunächst noch sehr schwierigen Bedingungen.
1964 kehrte Rolf nach Beijing zurück und arbeitete zwei Jahre lang als Presseattaché der Botschaft der DDR. In Beijing kam Katrin, die zweite Tochter, zur Welt. 1966 gingen die Bertholds wieder nach Berlin, denn im Ministerium wurde ein neuer Sektionsleiter für China gesucht. Rolf übernahm die Funktion. 1967 dann waren die Bertholds zu fünft: die dritte Tochter Grit kam zur Welt. Die junge Familie konnte eine neue Wohnung beziehen. Doch das Leben eines Diplomaten ist unstet, ständige Wohnortwechsel für die Familie stehen auf dem Programm:
Im Januar 1971 stand erneut ein größerer Wechsel an, Rolf wurde in die Demokratische Republik Vietnam geschickt. Der Vorgänger als Botschaftsrat in Hanoi war schwer erkrankt, Rolf übernahm die Stelle, während einer ganz schweren Zeit. Der Aggressionskrieg der USA gegen den vietnamesischen Befreiungskampf erfasste – nach einiger Zeit der Ruhe während laufender Friedensverhandlungen – wieder Nordvietnam. US-Präsident Richard Nixon ließ Luftangriffe auf die Städte und Häfen des Landes fliegen.
Rolfs schöner und spannender Beruf hatte auch Schattenseiten, für die Angehörigen. Oft kam es zu längeren Phasen der Trennung. Bereits im April 1972 mussten die Frauen und Kinder der Botschaftsangehörigen aus Hanoi evakuiert werden. Rolfs Arbeit in der DDR-Botschaft hatte auch mit einem der schwersten Zwischenfälle während des Vietnamkrieges zu tun: Während eines massiven Luftschlages gegen Haiphong wurde auch der DDR-Frachter „Halberstadt“, der dort im Hafen seine Ladung aus Nahrungsmitteln und Hilfsgütern löschen wollte, getroffen und schwer beschädigt. Bevor Rolf an Bord gehen konnte, hatte er mit der Hafenaufsicht eine heftige Auseinandersetzung, da diese dem vietnamesischen Kraftfahrer nicht gestatten wollte, ihn aufs Schiff zu begleiten. Er konnte, wenn es nötig war, durchaus stur sein und sich auch durchsetzen. Rolf erlebte an Bord wie eine US-Rakete den Schiffsrumpf durchschlug und an der anderen Seite wieder austrat. Auch ein sowjetisches Schiff war von US-Bomben getroffen worden, eine weitere globale Eskalation des Krieges stand zu befürchten. Glücklicherweise gab es auf der „Halberstadt“ nur geringfügig Verletzte. Doch an diesem Tag, als das sozialistische und das imperialistische Lager vor der Gefahr einer unmittelbaren Konfrontation standen, war auch Rolfs Leben akut in Gefahr.
Auch die Hauptstadt der Demokratischen Republik Vietnam, Hanoi, war ständigen und massiven Flächenbombardements durch die US Air Force ausgesetzt. Die Botschaft musste weitestgehend geräumt werden. Zuerst wurden im April 1972 die weiblichen Mitarbeiter mit ihren Kindern zurück in die DDR evakuiert. Rolf selbst blieb die ganze Zeit während der Bombardierungen und erfüllte seine diplomatischen Aufgaben. Erst im März 1973, nach Beendigung der Friedensverhandlungen, konnte die Familie wieder zurückkehren und war bis Sommer 1974 endlich wieder zusammen. Zwei Jahre später (30.04.1975) endete der Krieg in Vietnam mit einem vollständigen Sieg des Volkes über alle Aggressoren, die dieses kleine Land in den letzten 50 Jahren mit außergewöhnlichem Vernichtungseifer heimgesucht hatten: Franzosen, Japaner, erneut die Franzosen, schließlich die gewaltige Kriegsmaschinerie der USA.
Einige Jahre arbeitete Rolf im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR in Berlin. Das große Haus des Außenministeriums steht heute nicht mehr, es lag am Marx-Engels-Platz, direkt gegenüber des Palastes der Republik, den die Sieger von 1989 ebenfalls haben zerstören lassen. Rolf leitete dort die Abteilung Fernost. 1982 trat er schließlich seinen wichtigsten Posten an: Er wurde Botschafter der DDR in der VR China.
Über Rolfs achtjährige Tätigkeit in China könnte man mehrere Bücher schreiben. Der Beginn seiner Arbeit fiel in keine ganz einfache Zeit. Die DDR konnte sich nicht komplett frei machen von den Widersprüchen im sozialistischen Lager. Doch Rolf hat immer betont, wie wichtig die Rückkehr zu engeren Beziehungen zur VR China und der Kommunistischen Partei für die Führung der DDR war. Diese Bemühungen, an denen Rolf einen bedeutenden Anteil hatte, waren erfolgreich und gipfelten in einem Besuch von Margot Honecker, der Volksbildungsministerin der DDR. Kurze Zeit später folgte 1986 der Besuch des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs der SED, Erich Honecker. Er wurde solidarisch empfangen, Deng Xiaoping sagte, es gehe „nicht um Wiederaufnahme der Parteibeziehungen [der SED zur KP Chinas], sondern um ihre Fortsetzung: Sie wurden nie abgebrochen“. Die lange Tradition der Solidarität zwischen deutscher und chinesischer Arbeiterklasse lebte fort. Die Solidarität war Rolfs eigentliches Thema, die Essenz seines Wirkens als Internationalist. Rolf wusste, wo in den zwanziger Jahren große Manifestationen der Solidarität mit dem kämpfenden chinesischen Volk stattgefunden haben: 100.000 Menschen haben in der Weimarer Republik vor dem Berliner Dom für „Solidarität mit Sowjetchina“ demonstriert.
Die Konterrevolution 1989/90 sollte Rolf in China erleben. Während in Europa und der UdSSR der Sozialismus zusammenbrach, kam es auch auf dem Tian-an-men-Platz in Beijing zu Unruhen – Rolf ist einer der ganz wenigen westlichen Augenzeugen geworden, vermutlich sogar der einzige deutsche. Er beschönigte nichts und wies stets auf die im Westen unbekannten Faktoren hin: Dass viele Polizisten oder junge Armeeangehörige zu den Todesopfern gehörten. Dass der Aufruhr, der keineswegs ein Volksaufstand war, auch am Widerstand der Beijinger Einwohner scheiterte. Bis zum – wortwörtlich – vorletzten Tag blieb Rolf auf seinem Posten in Beijing. Im Oktober 1990 hörte sein Staat auf zu existieren, und die Rückkehr in ein nun fremdes Land stand an.
Die Sieger kosteten ihren Sieg zur Neige aus, und die Schäbigkeit ihres Umgangs mit den Besiegten verdient es nicht, weiter ausgeführt zu werden. Rolf war arbeitslos, die bundesdeutsche Stellenvermittlung betrachtete ihn als „überqualifiziert“ – sowieso eines der schlimmsten Wörter von allen. Wie kann ein Mensch „überqualifiziert“ sein? Das Gegenteil ist ja vorstellbar, aber ein Zuviel an Können, ein Zuviel an Wissen? Doch so ganz falsch war es aus ihrer Sicht ja nicht, denn Rolfs Fähigkeiten hätten der BRD schließlich nichts genützt. Rolf war praktisch veranlagt und kam auch in der schweren Zeit nach 1990 über die Runden. Seine wahre Berufung hatte sich durch die Annexion der DDR sowieso nicht geändert. Rolf machte weiter, nun unter anderen politischen Umständen, in einem Land, das auf dem Antikommunismus aufbaut, mit dem, was er als Kommunist für selbstverständlich erachtet hat.
Sich geschlagen geben, das war nicht seine Art. Eine Schlacht war verloren, aber nicht ein Krieg. Der Blick nach China verdeutlicht das: Die achtungsgebietenden Erfolge des chinesischen Aufbaus, der Sieg über die Hungersnöte, die Industrialisierung und Hebung des Lebensniveaus haben die Volksrepublik heute zu einem Vorbild für Länder der sogenannten dritten Welt gemacht. Rolf blieb parteiisch. Die damals gesicherte Weiterexistenz der sozialistischen Volksrepublik, das war und ist Garant dafür, dass China gedeiht und es andere Länder einmal leichter haben werden.
Und er blieb unermüdlich. Als „Botschafter im Ruhestand“ organisierte und begleitete er Reisegruppen nach China, später auch nach Vietnam. Rolf war zwar Rentner wider Willen, aber nicht inaktiv. Lange Jahre wirkte er als Vorsitzender des Fördervereins der Zeitschrift RotFuchs. In der „Volkssolidarität“ war er bis 2016 Vorsitzender der Bezirksorganisation Friedrichshain.
1999 konnten Ursula und Rolf auf Einladung der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua wieder nach China reisen, ein Wiedersehen mit vielen alten Freunden und Kollegen, ein „letzter Gruß Chinas an die zerstörte DDR“, wie Rolf sagte. Er publizierte viel, zu China und Vietnam, im RotFuchs, in der Tageszeitung junge Welt. Rolfs Buch, „Chinas Weg“, ist 2009 im Verlag Wiljo Heinen erschienen. Auf seine umfangreiche Vortragstätigkeit im ganzen Land habe ich bereits hingewiesen: Es ist kaum zu zählen, wen er so in den letzten fünfundzwanzig Jahren alles erreicht hat: Studenten im Westen, Linksparteimitglieder im Osten. Ein realistischer Blick auf China, eine Vermittlung der engen Beziehungen zwischen der deutschen und chinesischen Arbeiterklasse und Verständnis für die Schwierigkeiten und Erfolge im Aufbau des großen Landes waren Rolfs Auftrag. Er hat China vielen Menschen mit Empathie, tiefem Wissen und solidarischer Verbundenheit nahegebracht. Das ist gegenüber der Hetze, mit der Land und Leute in den hiesigen Medien überzogen werden, nicht zu überschätzen.
Ursula und Rolf konnten noch drei große gemeinsame Reisen unternehmen, in die Länder, die ihnen am Herzen lagen und liegen. Von 2008 auf 2009 besuchten sie Kuba, im Oktober 2010 die Volksrepublik China und 2013, im Februar und März, Vietnam.
Rolf war vieles, Ehemann, Vater, Großvater, Freund und Genosse, für jeden hier und von uns eines oder mehr davon. Rolf war Zeuge und Mitgestalter der DDR, er hat die junge Volksrepublik China fast vom ersten Tag an begleitet und selbst ein Kapitel zur Geschichte der deutsch-chinesischen Solidarität hinzugefügt. Einen der grausamsten Kriege des 20. Jahrhunderts, den Vietnamkrieg, erlebte und erlitt er mit, wie auch den Sieg des vietnamesischen Volkes. Das ist nur für diejenigen zu viel, um es in einem einzigen Leben unterzubringen, die Menschen für „überqualifiziert“ halten können.
Wir verabschieden uns heute von Rolf und blicken voller Dankbarkeit auf sein langes und erfülltes Leben zurück. Ursula, Rolfs und Ursulas Kindern und ihren Enkeln gehört unser Mitgefühl, euch viel Kraft.
Sebastian Carlens