Rassismus und Armut töten. Im Fall eines in der Nacht auf vergangenen Sonntag gestorbenen Göttingers war die Ursache unterlassene Hilfeleistung. Seit Donnerstag letzter Woche ist das Haus, in dem der Mann wohnte, wegen eines Corona-Ausbruchs komplett abgeriegelt. Die Lebensgefährtin des Mannes bat die Beamten, die das Gebäude bewachen, medizinische Hilfe zu holen, ihr Freund leide unter Atemnot. Als eine Stunde später Rettungskräfte auftauchten, war der Mann tot. Covid-19 hatte er angeblich nicht, eine Obduktion fand jedoch nicht statt.
Die Corona-Pandemie trifft auch in Deutschland vor allem arme, oft migrantische Familien der Arbeiterklasse. Sie sind es, die in Kurzarbeit geschickt werden, die ihre oft mies bezahlte Arbeit verlieren, und wenn sie aus dem EU-Raum stammen, damit auch ihre Freizügigkeitsberechtigung. Denn die ist an Arbeit gekoppelt, Sozialleistungen sind nicht vorgesehen. Wer weniger als fünf Jahre in Deutschland lebt, muss ohne Arbeit technisch gesehen ausreisen. Und sie sind diejenigen, die in ihren Wohnstätten eingesperrt werden, auch wenn sie nicht infiziert sind. Um die „Bevölkerung“ zu schützen – wer arm oder migrantisch ist, gehört anscheinend nicht dazu.
Die Geschehnisse in Göttingen sind dafür nur ein Beispiel: Es begann im Iduna-Zentrum, einer Wohnanlage in Uni-Nähe. Früher Vorzeigeprojekt mit Sauna und Schwimmbad, heute schimmelige Wohnanlage für „sozial Benachteiligte“. In der Anlage leben inzwischen 700 Menschen. Ende Mai/Anfang Juni breitete sich Covid-19 im Iduna-Zentrum aus. Dabei wurde immer wieder die Zahl von 170 Infizierten im Zusammenhang mit dem Gebäude genannt, dort sind beim Massentest jedoch nur etwas über 20 Fälle festgestellt worden.
Die Stadtverwaltung verbreitete, Großfamilien hätten das muslimische Zuckerfest ohne die Einhaltung der Regeln zur Bekämpfung der Pandemie gefeiert und Jugendliche hätten sich in einer illegal geöffneten Shisha-Bar getroffen. Die betroffenen Familien, deren Namen inzwischen in der gesamten Stadt bekannt sind, und die Moschee-Gemeinde schildern eine andere Version der Ereignisse. Der Besitzer der Shisha-Bar veröffentlichte seine Kommunikation mit der Stadtverwaltung zur Öffnung des Ladens – sie war legal. Die Moschee veröffentlichte Bilder des Zuckerfestgebetes. Abstandsregeln wurden eingehalten, Mund-Nasen-Schutz getragen. Die Bewohner klagen über den Rassismus, mit dem ihnen entgegengetreten wird.
Eine Übereinstimmung in den Darstellungen von Stadt und Bewohnern gab es dennoch: Ein Infizierter hatte sich nicht an die Quarantäne gehalten, die Bewohner riefen die Polizei, diese zeigte kein Interesse daran, den Hinweisen rechtzeitig nachzugehen.
Die Folgen sind für die ganze Stadt spürbar. Alle Schulen schlossen für zwei Wochen, den arbeitenden Eltern wurde der letzte Nerv geraubt, Kleingewerbetreibende hatten weitere Verluste, die bundesweiten Lockerungen wurden in Göttingen verspätet umgesetzt.
Beim zufällig festgestellten zweiten Ausbruch in einem anderen Gebäude wollte die Stadt angeblich „behutsamer“ vorgehen. Das Motto war: „Keine Stigmatisierung, aber auch kein Shutdown“. Die Adresse der Wohnanlage sollte nicht bekannt, Begriffe wie „Großfamilien“ vermieden werden. Dennoch war am zweiten Tag klar, um welches Gebäude es sich handelt: die gesamte Anlage mit 700 Bewohnern, darunter 200 Kinder, eingepfercht in Ein- bis Zweizimmerwohnungen, wurde unter Zwangsquarantäne gestellt – obwohl 83 Prozent der Bewohner negativ getestet worden waren. Gepanzerte Polizisten riegelten das Haus mit Bauzäunen ab und bewachte diese. Ziel der von der SPD und Grünen geführten Stadtverwaltung: einen Shutdown um jeden Preis zu vermeiden. In zwei Testungen wurden über 120 Einwohner als infiziert festgestellt. Dass sich unter der Quarantäne Nicht-Infizierte anstecken, führte nicht zum kritischen Nachdenken der Stadtverwaltung.
Die Bewohner des Hochhauskomplexes wurden von der Härte der Maßnahmen völlig überrascht. Die Versorgung war schlecht und unzureichend, teilweise sollen abgelaufene Lebensmittel verteilt worden sein, Säuglingsnahrung und Windeln fehlten. Letzteres veranlasste einen verzweifelten Vater dazu, einen Ausbruchsversuch zu wagen – er wurde brutal in die Wohnanlage zurückgezwungen. Die Stimmung im Haus war explosiv. Während einer Kundgebung zur Mietpolitik vor dem Gebäude kam es zu einer Solidarisierung zwischen Demonstranten und Anwohnern. Die Polizei ging hart gegen die Anwohner vor, die sich das Eingesperrtsein nicht länger gefallen lassen wollten. Unter anderem wurde Pfefferspray gegen Kinder eingesetzt. Der Göttinger Polizeipräsident sprach von Angriffen der Bewohner mit Steinen und Holzlatten. Nachdem nach einigen Tagen die zweimal negativ getesteten Bewohner wieder zum Einkaufen durften, wurden ihre Taschen nach Glasflaschen und Gläsern durchsucht, diese durften sie nicht mehr in ihre Wohnungen nehmen.
Die Situation in Göttingen zeigt deutlich die Verhältnisse in diesem Land. Migrantische Menschen aus der Arbeiterklasse leben dicht beisammen, Abstandsregeln können unmöglich eingehalten werden. Systematisches Testen im Vorfeld – Fehlanzeige, Konzepte sowieso, ebenso Angebote an Infizierte in leerstehende Hotels umzuziehen. Statt dessen Einsperrung und Erniedrigung – es sind auch Repressionsübungen.
Geringfügig ergänzter Text aus UZ vom 26. Juni 2020 (Toto Lyna)
Auch in Göttingen kennen die Antifaschisten den Unterschied von Gesundheitsschutz und Corona-Terror durch Polizei und Stadtverwaltung.
Einsperren statt ständige kostenlose Massentests und Desinfektion. Im Bild der abgeriegelte Wohnblock in Göttingen