Für Dialektik in Organisationsfragen
Seit 2008 wird von wechselnden Bundesregierungen verkündet, Israels Sicherheit sei Teil deutscher Staatsraison. So auch in der jüngsten einstimmigen Entschließung des Bundestages, diesmal sogar erstmals mit den Stimmen der faschistischen AfD. Was genau soll das heißen?
Bei der Bundeszentrale für politische Bildung, immerhin zuständig dafür, uns das alles zu erklären, findet man diese Definition der Staatsraison:
„S. ist ein Prinzip, das die Interessen des Staates über alle anderen (partikularen oder individuellen) Interessen stellt.
Nach diesem absolutistischen bzw. obrigkeitsstaatlichen Prinzip ist die Erhaltung der Macht, die Einheit und das Überleben des Staates ein Wert an sich und rechtfertigt letztlich den Einsatz aller Mittel, unabhängig von Moral oder Gesetz. Das Prinzip der S. wird heute noch von autoritären Regimen gepflegt.“[1]
Das klingt ja ganz nach den Erben des faschistischen Deutschlands, das die „Endlösung der Judenfrage“ aufgrund seiner militärischen Niederlage durch die Anti-Hitler-Koalition nicht ganz erreichen konnte. Infolgedessen sind sie seitdem „für Demokratie“, und „für die Juden“. Würden sie das ernst meinen, könnten sie eine antifaschistische Politik machen. Aber nein, es geht vielmehr um eine philosemitisch übertünchte Abwehr der nie aufgearbeiteten Verbrechen und nie gezahlten Schulden ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter. Und auf dieser Grundlage wird Deutschland fit gemacht für heutige und kommende Kriege. Schon 2006 verkündete die FAZ triumphierend: „Wenn Bundeswehrsoldaten in den israelisch-libanesischen Konflikt eingreifen, wird es danach keinen Ort der Welt mehr geben, an den zu gehen eine Bundesregierung mit Hinweis auf die deutsche Vergangenheit ablehnen könnte.“[2] Und 2017 kann man das lesen: „Der Luftwaffenstützpunkt Uvda im Süden Israels. Vier Kampfjets vom Typ Eurofighter stehen an einer der Startbahnen. Was gleich passiert, nennen deutsche Diplomaten ‚historisch.‘ Denn die Eurofighter und ihre Piloten kommen aus Deutschland. 72 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Holocaust sind zum ersten Mal Kampfflugzeuge der Luftwaffe in Israel.“[3] Und heute: Bundeswehrflugzeuge sind bereits in Israel gelandet, um deutsche Staatsbürger herauszufliegen (zivile Flugzeuge hätten es auch getan). 1.000 Soldaten wurden in der Nähe von Israel stationiert, hauptsächlich in Zypern. Angeblich sollen auch sie sich bereithalten für Evakuierungen. Dafür braucht man 1.000 Soldaten? Ganz aus dem Häuschen geraten ist der Kriegsminister Pistorius. Er fordert, dass wir „kriegstüchtig“ werden und verlangt unsere „Wehrhaftigkeit“.[4]
Habecks Video
Weiteres zur Volkserziehung trug der Wirtschaftsminister Habeck vor. Sein Video vom 1. November wurde zehntausende mal geteilt. Außer der Betonung der „Staatsraison“ (bei der er deren militaristische Ausprägung taktvoll überging) war ihm der Kampf gegen den Antisemitismus ein Anliegen. Das ist erstmal berechtigt, tatsächlich ist das Anwachsen des Antisemitismus in diesem Land gerade zu dieser Zeit besorgniserregend. Einiges davon hat Habeck aber dann doch lieber ausgeblendet. Wie ist es denn einzuschätzen, dass gerade in diesen Tagen ein Aiwanger, der sozusagen als Märtyrer des Antisemitismus bei der Landtagswahl Stimmen gewinnen konnte, in die bayerische Staatsregierung aufgenommen wurde? Gibt es gar nichts dazu zu sagen, dass in einem Podcast, für den das öffentlich-rechtliche Fernsehen ZDF eine Million Euro jährlich springen lässt, ein Herr Precht behaupten kann, die Religion verbiete ultraorthodoxen Juden zu arbeiten, außer etwa im Diamanthandel und in bestimmten Finanzgeschäften, ein Herr Lanz dem im gleichen Podcast zustimmen kann und eine ZDF-Redaktion das durchwinkt. Habeck aber schlug lieber auf die Muslime ein. Denen sagte er, sie müssten sich „klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen“.[5] So kann man Öl ins Feuer des antimuslimischen Rassismus schütten! Schon mal was von Religionsfreiheit gehört? Wenn die Muslime sich vom Antisemitismus distanzieren sollen, wieso wird dann nicht von den Christen das Gleiche verlangt? Die christlichen Kirchen haben beträchtliche Schuld nicht nur während des Hitlerfaschismus auf sich geladen. Das Christentum hat seit den Kreuzzügen ein Verbrechen nach dem anderen an den Juden verübt! In oder an rund 30 Kirchen in Deutschland werden heute noch öffentlich unerträgliche alte Darstellungen der „Judensau“ zur Schau gestellt. Aber nein, es sind die Muslime, die sich distanzieren müssen!
Auch wenn Habeck zugestehen musste, dass es auch deutsche Antisemiten gibt – sein Hauptfokus lag auf den „Muslimen“ – gemeint sind natürlich Einwanderer oder Asylsuchende aus Nahost. Und das ist ein sehr beliebtes Vorurteil (das Habeck vorsichtshalber nicht aussprach, um an dieser Stelle nicht angreifbar zu sein): das Märchen vom Import des Antisemitismus. Die Wirklichkeit sieht so aus: Der deutsche faschistische Staat hatte heftige Aktivitäten in arabischen Ländern betrieben und dort auch für die Verbreitung der imperialistischen Ideologie des Antisemitismus gesorgt. Zum Beispiel ist die antisemitische Fälschung mit dem Titel „Protokolle der Weisen von Zion“ auf diesem Weg in den Nahen Osten gelangt. Wenn heute Migranten aus arabischen Ländern antisemitische Ansichten haben, dann haben sie das entweder in Deutschland gelernt oder es handelt sich im einen Re-Import. In Deutschland ist der Schoß, aus dem das kroch, und der noch fruchtbar ist!
Eine weitere Halbwahrheit ließ Habeck los, als er erklärte es seien „islamistische Demonstrationen“ verboten worden. Vielleicht sind auch islamistische Demos verboten worden. Es sind aber vor allem palästinensische Solidaritätsdemonstrationen verboten worden, mit der Begründung, dass Straftaten befürchtet werden. Mit dieser Begründung könnte man alles verbieten. Im Supermarkt, beim Töpferkurs, am Fließband, überall kann es zu Straftaten kommen. Das Demonstrationsrecht wird wieder mal eingeschränkt, wie wir es täglich und immer wieder erleben.
Eine weitere Entrechtung ist die Ungleichbehandlung von Deutschen und Nichtdeutschen beim Verdacht auf Straftaten. Wer Deutscher ist, wird bestraft, wer nicht – da murmelte Habeck etwas von „Aufenthaltsstatus verlieren“. So ein hässliches Wort wie „Abschiebungen“ nimmt er nicht in den Mund. Dabei war ja die Ausweitung der Abschiebungen aus ganz anderen Gründen beschlossen worden, und nicht etwa als Kampfmittel gegen den Antisemitismus…
Was passiert hier gerade: Im Schatten des Überfalls der Hamas auf Israel wird das bürgerliche Recht immer mehr angegriffen, so dass Willkür, die zum Faschismus führt, Platz greifen kann. Das Demonstrationsrecht wird eingeschränkt. Tatsächliche oder vermeintliche Straftäter werden, wenn sie keine Deutschen sind, nicht vor Gericht gestellt. Sondern sie werden abgeschoben – ohne Urteil, ohne Prüfung durch ein Gericht. Man spart sich bei einem Teil der Bevölkerung einfach die Rechtsprechung, die Möglichkeit, sich vor Gericht zu verteidigen, die Möglichkeit, vor der Verurteilung an die Öffentlichkeit zu gehen usw. Die herrschende Klasse rüstet zum Krieg. Und da braucht sie letztlich auch den Faschismus. Davon will Habeck nichts wissen.
Selbstverständlich musste er uns auch noch den „linken Antisemitismus“ hinterherschmeißen. Tatsächlich gibt es zwar keinen linken Antisemitismus, aber bei manchen Linken antisemitische Gedanken, aus Irrtum und Fehlern, denn links sein heißt auch, gegen den Antisemitismus kämpfen. Aber darüber werden wir uns nicht mit Habeck streiten. Das ist unsere Sache. Unsere Sache ist jetzt auch, uns auf Dinge zu einigen, die einen gemeinsamen Kampf gegen Faschismus und Krieg möglich machen, auch unter der Bedingung des Nahost-Konflikts.
Hier ein nachdenklicher Gedanke aus einem Leserbrief im Neuen Deutschland vom 26.10.2023
„Ich bin Jahrgang 1944, bin durch die »Gnade meiner späten Geburt« zwar nicht persönlich an Juden und Jüdinnen schuldig geworden. Ich weiß aber um die Schuld unserer Vorfahren und dass uns andere vor einer möglichen Weiterschreibung der Schuld bewahrt haben. Und ich weiß noch etwas: Diese Schuld tragen, seit ich lebe, ganz konkret die Menschen in Palästina ab und nicht wir in Deutschland und Österreich. Diese Menschen wurden plötzlich vertrieben, enteignet, entrechtet, in einen Kampf getrieben, dessen Ursache sie nicht sind. Daran trägt nicht Israel die historische Schuld, sondern wir mit unseren Vorfahren. Israelis haben ein Recht auf ihren Staat in dieser Region, Palästinenser:innen aber auch. Das ist die derzeit unentwirrbar scheinende Hinterlassenschaft des Holocaust.
Wenn die Welt einmal Ordnung in diese Wirrnis gebracht hat, dann können auch die Menschen in Deutschland und Österreich sich zu Wort melden. Derzeit hilft unser Schweigen mehr als jeder Rat.“ (Prof. Dr. Peter Porsch, Parthenstein)
Da möchten wir noch hinzufügen: Zu der Welt, die Ordnung in die Wirrnis zu bringen hat, gehören wir auch. Und das ist in diesem Sinn unsere Aufgabe in Deutschland: dass wir den deutschen Kriegstreibern den Weg verstellen und schließlich den deutschen Imperialismus stürzen.
Und hier ein Vorschlag zur unmittelbaren Solidarität heute:
– Spendet für die Opfer dieses Krieges! Jeder Euro wird durch zwei geteilt – für die Israelis und für die Palästinenser.
– Keinen Euro und keinen deutschen Soldaten für den Krieg in Nahost!
– Hände weg von Israel!
– Hände weg von Palästina!
KAZ-Fraktion „Für Dialektik in Organisationsfragen“
In Bremen hatte jemand an eine Wand geschrieben: „Für jeden Zionisten 1 Kugel“ und „Free Gaza“.
Obwohl in Unkenntnis der Person des Autors dieser Drohung – es interessiert uns doch, wer alles demnach zu erschießen ist.
Da wäre zunächst mal die israelische Regierung – sei es die jetzige Notstandsregierung oder die vor dem Überfall der Hamas amtierende Regierung – da finden wir wahrscheinlich durchgängig Zionisten.
Gegen die bis vor Kurzem amtierende Regierung gab es heftige Proteste wegen einer geplanten undemokratischen Justizreform. Weit über 100.000 Menschen waren in diesem kleinen Land auf der Straße. Auf den Fotos dieser Proteste sieht man ein Meer von israelischen Fahnen.
Die israelische Fahne ist ein zionistisches Symbol. Alles Zionisten, diese um Demokratie kämpfenden Menschen? Da bräuchte es viele Kugeln …
Die Konkretheit der Drohung und die Abstraktheit der Ziele – und damit die Wahllosigkeit beim Töten der angeblichen Feinde – das ist nach allen bisherigen Erfahrungen typisches Anzeichen faschistischer Gewalttätigkeit.
Wir haben nun schon viele der als Zionisten Bedrohten gefunden. Aber auf einen wollen wir noch hinweisen, obwohl den keine Kugel mehr trifft – er verstarb 2018. Der große israelische Schriftsteller Amos Oz war bekennender Zionist. Kurz vor seinem Tod schrieb er: „Mein zionistischer Ansatz ist schon seit Jahren ganz einfach: Wir sind nicht allein in diesem Land. Das sage ich auch zu meinen palästinensischen Freunden. Ihr seid nicht allein in diesem Land. Es gibt keinen anderen Weg, als dieses kleine Haus in zwei noch kleinere Wohnungen aufzuteilen. Ja, ein Zweifamilienhaus. Wenn jemand kommt, egal von welcher Seite, und sagt: ‚Das ist mein Land‘ – dann hat er recht. Aber wenn jemand kommt, egal von welcher Seite der Barrikaden, und sagt: ‚Dieses Land, vom Mittelmeer bis zum Jordan, gehört mir und nur mir allein‘ – dann riecht er nach Blut.“
(Das Zitat von Amos Oz ist aus dem Buch „Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers“, Berlin 2018, zitiert nach www.juedische-allgemeine.de/kultur/liebe-fanatiker/).
1 www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18278/staatsraison/
2 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 28.08.06, zitiert nach www.kaz-online.de/artikel/der-wieder-erwachende-antisemitismus-und-die-erneu
3 www.deutschlandfunk.de/deutsche-kampfflugzeuge-in-israel-emotionales-symbol-der-100.html
4 www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/pistorius-modernisierung-bundeswehr-kriegsgefahr-europa
5 www.fr.de/politik/habeck-video-israel-hamas-antisemitismus-krieg-muslime-linke-twitter-reaktionen-92650012.html