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Rezension

Wie konnte das geschehen?

Der 2. Band von „Die Taubenfuß-Chronik oder die Chruschtschowiade“[1] des marxistischen Historikers Kurt Gossweiler ist erschienen. Wie wir schon zu Band 1 bemerkten: Es ist ein erstaunliches und lesenswertes Buch.

Der Autor (Jahrgang 1917), der in Westdeutschland vor allem durch seine herausragenden Veröffentlichungen zum Klassencharakter des deutschen Faschismus bekannt ist[2] , schreibt seine Analysen in Form einer Chronik der kommunistischen Weltbewegung fort. Der erste Band beleuchtete die Zeit von Stalins Tod (März 1953) bis zum 20. Parteitag der KPdSU mit der perfiden Verurteilung Stalins[3] durch Chruschtschow. Ihre Folge war u.a., dass die Konterrevolution in Polen und Ungarn ihr Haupt erhob, und das probte, was 1989 schließlich gelang: Die Auslieferung dieser Länder an die Imperialisten. Der 2. Band umspannt den Zeitabschnitt von 1957 bis 1976, dem Tod Mao Tse-Tungs.

1957 ist das Jahr, in dem sich auf der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der Widerstand gegen den revisionistischen Chruschtschow-Kurs unter der Führung der KP China und der Partei der Arbeit Albaniens formiert. Die folgenden Jahre bis zur Absetzung Chruschtschows (1964), rufen das Vexierspiel Chruschtschows in Erinnerung um seine Linie der Anbiederung an den USA-Imperialismus („friedliche Koexistenz“ und „friedlicher Wettbewerb“), um das Auseinanderdividieren des sozialistischen Lagers unter dem Stichwort „Nationalkommunismus“. Aufschlussreich auch die Darstellung von Chruschtschows Abenteurer-Politik im Innern, hier vor allem in der Landwirtschaft. Das führte ja immerhin dazu, dass die Sowjetunion schließlich abhängig wurde von Weizenimporten aus den USA. Und die Abenteuer in der Außenpolitik wie das Heraufbeschwören der kubanischen Oktoberkrise (1962, wo Chruschtschow den kubanischen Genossen erst die Stationierung von Atomraketen massiv aufgedrängt hatte und sie dann – nach Drohungen des US-Imperialismus – schmählich im Stich ließ. Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zu den Ereignissen, die zum Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ in Berlin geführt haben. Wer weiß heute noch (und wusste es bei den ätzenden Entschuldigungen von PDS-Repräsentanten), dass dem jahrelange hinhaltende Verhandlungen Chruschtschows mit den westlichen Siegermächten um einen Friedensvertrag mit Deutschland vorausgegangen waren, begleitet von periodischen Drohungen Chruschtschows, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen? Diese Drohungen verbunden mit entsprechender Angstpropaganda des Westens führten jeweils zum Anschwellen der Welle von „Republikflucht“ und zum Ausbluten der DDR.

Lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil hier ein Zeitzeuge aus damaligem Erleben und Denken zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommt als der „mainstream“ der Geschichtsschreibung der BRD, aber auch der DDR. Und dabei wird auch der so liebenswerte Mensch Kurt Gossweiler sichtbar, der mit tiefer politischer Leidenschaft, zwischen (immer wieder enttäuschtem) Hoffen und (schließlich leider bestätigtem) Bangen die großen Auseinandersetzungen um das Schicksal des Sozialismus verfolgt. Man kann ihn richtig vor sich sehen, wie er um das Verständnis der großen Linie ringt beim Studium der offiziellen Dokumente, Zeitschriften und Meldungen. Spürbar wird auch sein revolutionäres Feuer und sein Witz, wenn er sich mit der Meldung im „Neuen Deutschland“ vom 11. Mai 1968 über die „Gründung des (zweiten!) Wissenschaftlichen Beirats für die Jugendfragen beim Ministerrat der DDR“ auseinandersetzt: „Die Tatsache, dass wir unsere Jugend zum Forschungsobjekt eines solchen Gremiums machen, beweist, dass uns die Jugend Rätsel aufgibt, dass sie sich nicht so verhält, wie wir uns das wünschen. ... Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass uns etwas Anormales, Verwunderliches in seinen Ursachen ‚aufgedeckt’ und ‚erklärt’ werden soll, um es zu regeln: ‚Was wissenschaftlich erklärt werden kann, ist optimal regelbar.’ ... Dem überkritischen Geist der Jugend ist unsere sozialistische Welt (im weitesten Sinne des ganzen Lagers) nicht in dem Maße glaub- und vertrauenswürdig, um zu ihr vorbehaltlos Ja sagen zu können. Und es wäre einfach ein Wunder, wenn es anders wäre, angesichts all der auf der Oberfläche sichtbaren krassen Widersprüche zwischen den Behauptungen der Theorie des Sozialismus und der Wirklichkeit. Wo soll rückhaltloses Vertrauen herkommen, wenn alle paar Jahre in einem anderen sozialistischen Staate die neuen Führer erklären, ihre Vorgänger hätten sich schlimme Verbrechen bis zur grundlosen Ermordung von schuldlosen Gegnern zuschulden kommen lassen (SU, Ungarn, Bulgarien, CSSR); wenn alle paar Jahre Führer, von denen bisher gesagt wurde, sie seien geniale Nachfolger Lenins und hervorragende, selbstlose Arbeiterführer, von heute auf morgen als Verfälscher des Marxismus-Leninismus ‚entlarvt’ werden. ... Kurzum: Solange die Wahrheit über die Ursachen der Entwicklungen im sozialistischen Lager seit dem 20. Parteitag nicht aufgedeckt wird – jene Wahrheit, die ein Beweis für die Richtigkeit der Theorie ist; die alle Zweifel an der Integrität der echten Führer der Kommunistischen Parteien beseitigt; die klarstellt, dass der Revisionismus eine Agentur des Imperialismus ist und alle Störungen in unserem Lager Ausdruck des verschärften Klassenkampfs in der Endrunde des Kampfes gegen den Imperialismus sind – solange wird unsere Jugend ‚Rätsel’ aufgeben; dies auch deshalb, weil sie auf Fragen, die wir nicht beantworten, die Antworten auf der Gegenseite sucht und weil diese Gegenseite gerade dadurch an Kredit gewinnt, weil sie auf die Fragen ‚antwortet’, die wir nicht einmal stellen, die aber ständig in der Luft hängen. Solange wir nicht voll glaubwürdig sind, wird für diese Jugend der Gegner nicht voll und ganz unglaubwürdig sein, wird er einen mehr oder weniger günstigen Nährboden bei unserer Jugend – und nicht nur bei ihr! – finden für seine ideologische Zersetzungsarbeit.

Aber da wir diese Wahrheit heute noch nicht und auch noch nicht so bald werden aussprechen können, werden wir eben unsere Zuflucht nehmen zu solchen Mittelchen wie ‚Jugendforschung’. ‚Was wissenschaftlich erklärt werden kann, ist optimal regelbar.’ Das ist ganz und gar im Sinne nicht des Marxismus und seiner Ideologie der revolutionären Veränderung der Welt gesagt, sondern im Geiste der bürgerlichen Soziologie als einer ‚Wissenschaft’, deren Aufgabe darin besteht, aufzudecken, wodurch der Mensch manipulierbar wird, wie er – ohne Aufdeckung der gesellschaftlichen Wahrheit – manipuliert werden kann.

Und das verweist uns auf heute: Solange die Wahrheit über die Ursachen der Entwicklungen im sozialistischen Lager seit dem 20. Parteitag nicht restlos aufgedeckt wird, werden wir nicht nur nicht die Restauration des Kapitalismus in den sozialistischen Ländern begreifen können, sondern vielmehr nicht zu einer nennenswerten revolutionären Kraft wieder werden können.

Die Gossweilersche „Taubenfußchronik“ nimmt uns diese Arbeit nicht ganz ab, aber sie spornt an, uns selbst zu vergewissern über die großen Fragen der zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung, für die wir kämpfen: Über das Verhältnis von äußerem Druck und inneren Widersprüchen im Sozialismus, über Widersprüche im Volk und Widersprüche zwischen uns und dem Feind (Mao Tse-Tung), über Demokratie und Diktatur, über das Verhältnis von Führung, Klasse und Massen.

Kurt Gossweiler, Die Taubenfuß-Chronik oder die Chruschtschowiade 1953 bis 1964, Bd. II, 1957 bis 1976, München 2005, Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung, ISBN 3-00-015517-1

Corell –
Fraktion Ausrichtung Kommunismus

1 Sie verdankt ihren Titel einer Äußerung des Mitglieds des Politbüros der SED, Karl Schirdewan, auf einer ZK-Tagung im November 1956: die Entartung des Sozialismus komme „auf Taubenfüßen“ daher.

2 Die Röhm-Affäre; Großbanken – Industriemonopole – Staat, Ökonomie und Politik des staatsmonopolisti­schen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932; Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919-1924; Aufsätze zum Faschismus; Die Strasser-Legende u.a.

3 Die Perfidie besteht vor allem darin, dass die Anschuldigungen nie bewiesen wurden, eine Aufklärung über die Anschuldigungen, über Fehler und ihre Verantwortlichkeit wurde nie betrieben. Die Geheimrede wurde nie als offizielles Parteidokument der KPdSU anerkannt. Sie wurde zuerst über Geheimdienstkanäle im Westen veröffentlicht und z.B. gegen die KPD im Verbotsprozess 1956 verwendet. Mit diesem Dokument wurden die völlig überraschten Genossen in die Ecke von Mordkomplizen gestellt; für sie war die Geheimrede ein Messerstich in den Rücken.

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