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2005 – das Jahr der Jahrestage

Das geschichtsträchtige Jahr 2005 hatten wir zum Anlass genommen, uns mit den historischen Aspekten zu beschäftigen, die mehr und mehr unterschlagen, verfälscht oder gegenteilig bewertet werden sollen, wenn es nach dem Willen der Reaktion, des Kapitals und seiner Büttel gehen würde. Angefangen bei der Unterschlagung der Rolle des Kapitals, das durch den Hitlerfaschismus glaubte, eine Weltmachtstellung für den deutschen Imperialismus erzwingen zu können, bis dahin, dass mit dem Begriffspaar aus der Kriminalistik und Juristerei – Täter/Opfer – falsche Fährten gelegt werden sollten, um Anstifter und Profiteure des Vernichtungskriegs aus der Verantwortung zu nehmen, soll auch der Widerstand gegen den Hitlerfaschismus getilgt werden, kommunistische „Terrorregimes“ als das Übel an und für sich sollen im Mittelpunkt stehen. Doch im 60sten Jahr der Befreiung vom Hitlerfaschismus konnten wir erleben, dass alle antifaschistischen Redner an der Selbstbefreiung von Buchenwald festhielten und alle Zugriffsversuche auf das Vermächtnis der Antifaschisten zurückschlugen. Doch alle Anstrengungen, Deutschland aus der historischen Verantwortung zu bringen, den Holocaust mit der Bombardierung deutscher Städte und den Vertreibungen im Osten aufzuwiegen, den 60sten Jahrestag zum ultimativen Ab- und Wegfeiern zu erklären, müssen daran scheitern, dass dieser Schwur von Buchenwald nicht eingelöst ist: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.

2005 ist auch 70. Jahrestag der „Nürnberger Rassengesetze“, die der Treibjagd auf jüdische Menschen, die bereits in vollem Umfang lief, die scheinlegale Rechtfertigung geben sollte. Auf die Volksgruppe der Sinti und Roma wurden dieselben Maßnahmen angewandt wie gegen jüdische Menschen. Der Völkermord an Sinti und Roma wird bis heute unterschlagen. Erst massive Proteste bewirkten, dass der Genozid durch eine Tafel am Holocaustmahnmal in Berlin Beachtung fand, eine Tafel, auf der die Ermordeten und Überlebenden des Holocaust als „Zigeuner“ nochmals beschimpft und diskreditiert werden. Die entwürdigende Diskussion über Verwendung oder Nichtverwendung des Begriffs „Zigeuner“ zeigt das dreistaggressive Vorgehen der Reaktionäre und das große Unwissen der Mehrheit der Bevölkerung.

Und noch ein Jahrestag muss uns zu denken geben: Wir befinden uns im 60. Jahr der Wiederkehr des Beginns der Nürnberger Prozesse, bei denen vom sowjetischen Hauptankläger Rudenko auch die Verbrechen an Sinti und Roma angeprangert wurden. Doch die Konsequenzen blieben aus, als besonders bei den Folgeprozessen, wie den Ärzte- und den Einsatzgruppenprozessen, die Verbrechen auch an Sinti und Roma behandelt wurden. Der Genozid wurde ignoriert und nicht zuletzt diese Tatsache sollte für die Sinti schwerwiegende Folgen in Bezug auf Wiedergutmachung, auf Wiedererlangen der deutschen Staatsangehörigkeit, sprich eines Passes, und der Bestrafung der Täter haben.

Historischer Abriss

Roma (von rom = Mensch) ist die Bezeichnung für ein Volk, das vor 1.000 Jahren aus seiner Heimat in Nordindien vertrieben wurde. Als Sinti (Menschen vom „sindhu“ = Indus) bezeichnen sich die Roma, die vor 600 Jahren in Mitteleuropa eingewandert sind. Zugleich werden die im ost- und südosteuropäischen Raum Ansässigen Roma genannt, um sie von den mitteleuropäischen Sinti zu unterscheiden. Die dritte, auf der iberischen Halbinsel, in Südfrankreich und in den lateinamerikanischen Ländern angesiedelte Gruppe ist die der Kale.

Das Wort „Zigeuner“ ist eine Fremdbezeichnung, die unter Sinti nicht üblich ist und als Schimpfwort angesehen wird. Wie alle anderen Menschen und Völker erwarten sie, mit ihrem richtigen Namen angesprochen zu werden.

Gypsy im angelsächsischen – und Gitano im hispanischen Sprachraum – bedeutet „Ägypter“. Diese Namen entstanden unter dem Einfluss der mittelalterlichen Literatur, in der die Roma und Sinti als „Ägypter“ erwähnt werden. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts dementierten Forscher diese Vorstellung, indem sie ihre Herkunft aus Indien nachweisen konnten.

Die Roma gehören zu den indoeuropäischen Völkern und sind mit Ausnahme des ostasiatischen Raums in allen Staaten der Erde verbreitet, so auch in allen europäischen Ländern. Hier bilden sie die größte nationale Minderheit Europas.

Das Romanes ist die Sprache der Roma und Sinti. Es hat seinen Kern im Sanskrit (samskrta: „geregelt, genormt“). Nach Grundwortschatz und grammatikalischem System ist die Sprache (auch: romani-chib genannt) eine indogermanische Sprache. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die romani-chib nur mündlich überliefert. In Sarajewo (Bosnien) wurden 1986 auf einem Symposium erste Konzepte zur Standardisierung dieser Sprache diskutiert. Der Vierte Weltkongress der Romani Union (1990) beauftragte eine internationale Arbeitsgruppe von Linguisten, Vorschläge für die Standardisierung des Alphabets und der Sprache zu unterbreiten. Über die Erforschung der Roma-Sprache gibt es den ältesten bekannten Text aus dem Jahr 1547. Er ist zweisprachig in der Roma-Sprache und in Englisch von Andrew Borde verfasst. Borde gelang es aber nicht, die Herkunft der Roma-Sprache zu erklären. Erst Jacob Carl Christoph Rüdiger schuf die Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung der Herkunft der Roma (Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien, Leipzig, 1782).

Inzwischen wurde in der geschichtlichen Forschung eingehender nachgewiesen, dass die meisten Roma (Sinti, Kale usw.) Indien in der Zeit der muslimischen Eroberungszüge des Mahmud von Ghazni (Afghanistan) verließen. In vielen Ländern und Regionen fanden Roma einen Platz innerhalb der bestehenden Wirtschaft. Der Prozess der Suche und Niederlassung zog sich über eine Zeitspanne von vielen hundert Jahren hin und setzt sich bis in unsere Zeit fort. 1348 sind Roma und Sinti in Makedonien und Serbien bezeugt, 1361 in Dubrovnik, 1378 in Zagreb usw. Von 1417 an gibt es Belege für den Zug bestimmter Gruppen durch Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien.

Zunächst wurden sie als Pilger akzeptiert und toleriert. Doch mit Beginn des 16. Jahrhunderts setzte die staatliche Gesetzgebung sie in verschiedenen Ländern der härtesten Verfolgung aus. Seit dem Jahre 1499 waren Roma auch in Spanien in Ungnade gefallen, man hatte ihnen sogar die Zungen abgeschnitten, die Augen ausgestochen und die Bewohner zur Jagd auf Sinti und Roma aufgehetzt. Dies kündigte man durch das Läuten der Kirchturmglocken an. In Deutschland wurden in der Periode von 1500 bis 1800 148 Edikte gegen Sinti und Roma erlassen. In vielen dieser Edikte wurden sie für „vogelfrei“ erklärt und somit Raub und Totschlag ausgesetzt. Die Leidensgeschichte der Sinti und Roma im 17. und 18. Jahrhundert ist voller schrecklicher Ereignisse: Erschießungen, Erhängungen und Folter. Im Rahmen eines „großen Kesseltreibens“ wurden die Roma „gehetzt und getötet, wie das Wild in den Wäldern, mit dem man sie als Gleichstehende erachtete“. So wurde bei der jährlichen Aufzählung der Jagdbeute eines kleinen rheinischen Fürstentums auch eine „Zigeunerin“ mit ihrem Säugling erwähnt. Für jeden getöteten „Zigeuner“ wurde eine Kopfprämie von einem Taler ausgezahlt, und die ländliche Bevölkerung wurde ermuntert, ebenfalls auf Sinti und Roma Jagd zu machen.

Dank der deutschen Kleinstaaterei gab es auch regionale Unterschiede. Zwischen 1500 bis 1800 kann man von einem Wechselspiel zwischen Duldung und Vertreibung sprechen, meist in Anlehnung an die allgemeine Konjunkturlage. In Krisenzeiten gab es aber auch Ausnahmen und Nischen zum Überleben, so z.B. das Ausweichen nach Frankreich.

Sinti und Roma standen in der ständisch gegliederten Gesellschaft zunächst nur wenige Berufe jenseits der Zunftordnung offen. So bildeten sich die als „traditionell“ betrachteten Berufe heraus, wie Geigenbauer, Holzschnitzer, Korbflechter, Pferdehändler, Schuhmacher, Steinbildner, Porzellanhändler, Puppenspieler. Und es sind auch berühmte Musiker, Artisten, Sänger und Schauspieler dabei. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Bauern, selbständige Kaufleute, Handwerker, Angestellte und Arbeiter. Viele Sinti waren Soldaten in der Kaiserlichen Armee und bis zu ihrem Ausschluss 1941/42 auch in der Wehrmacht.

Nach der Französischen Revolution sollte auch ein wenig an Menschen- und Bürgerrechten für Sinti und Roma abfallen. Sie durften in den Orten, aus denen sie kamen, nun auch offiziell beheimatet sein und Grundbesitz erwerben. Viele Sinti und Roma ließen sich in den großen Städten nieder und hatten ein zumeist bescheidenes Auskommen. Diejenigen, die mit Familien beruflich unterwegs waren, erlitten auf Behörden- und Polizeiebene stets neue Schikanen und Repressionen. Unter dem Stichwort „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ war man bestrebt, alle Sinti und Roma, die ein „Wandergewerbe“ ausübten, zu erfassen und systematisch zu überwachen. Dieser „Zigeunerwahn“ führte dazu, dass das „Zigeunerunwesen“ als Begriff in polizeilichen Denkschemata seinen festen Platz erhielt. Ab Ende des 19. Jahrhunderts nahm somit der Begriff „Zigeuner“ immer mehr biologisch-rassistische Konturen an. Cesare Lombroso, 1836-1909, Vertreter der umstrittenen Lehre vom „geborenen Verbrecher“, hat in ‚Luomo delinquente’ die Roma als „Atavisten und Kriminelle“ typologisiert; während A. Dillman in „Das Zigeunerbuch“ (München 1905) schrieb: „Das fahrende Volk der Zigeuner ist seit dem 15. Jahrhundert, in dem es zum ersten Mal in Deutschland aufgetreten ist, ein schädlicher Fremdkörper in der deutschen Kultur geblieben. Alle Versuche, die Zigeuner an die Scholle zu fesseln und an eine sesshafte Lebensweise zu gewöhnen, sind fehlgeschlagen. Auch drakonische Strafen konnten sie von ihrer unsteten Lebensführung und ihrem Hange zu unrechtmäßigem Vermögenserwerb nicht abbringen. Trotz vielfacher Vermischung sind ihre Abkömmlinge wieder Zigeuner geworden mit den gleichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten, die schon ihre Vorfahren besessen hatten“.

Das 20. Jahrhundert brachte keine große Veränderung. Vielfach wurde die Polizei von Politikern aufgehetzt, sie solle Orte „zigeunerfrei“ machen. So wurden die Sinti, die Wohnmöglichkeiten, Arbeit und Schulen für ihre Kinder suchten, von einem Ort zum anderen in größtes Elend getrieben. Wenn das Wohnrecht nicht vorhanden war, gab es auch keinen Gewerbeschein und umgekehrt. Und sobald sie verjagt waren, wurde den Vertriebenen von den Vertreibern ein „Wander­trieb“ angedichtet. Obwohl während der Weimarer Zeit eine Minderheit in der Minderheit, gaben die wegen ihres Berufs reisenden Sinti das generelle Feindbild ab. Diejenigen, die in Großstädten lebten und „normalen“ Berufen nachgingen, wurden von der Mehrheitsbevölkerung zunehmend toleriert. Und auch die jahrhundertlange Verwurzelung in bestimmten Regionen und eher ländlichen Gebieten wird akzeptiert. Doch welch armselige Begrifflichkeit! Was der Kleinbürger unter Toleranz und Akzeptanz versteht, unter „Normalität des Zusammenlebens“, hier eine Kostprobe von 1932 aus der „Pfälzische Rundschau“: „Die Zigeunerfamilien kommen ins Dorf, kaufen ihre Milch und ihr Brot, fallen sonst nicht auf, schi­cken ihre Kinder in die Ortschule, besuchen den Gottesdienst, denn sie sind zum römisch-katholischen Glauben übergetreten und haben auch bei der letzten Reichspräsidentenwahl ihre Staatsbürgerpflicht erfüllt.

Jahrhunderte lang hatten sich Sinti und Roma nicht assimilieren lassen, hatten sich weder Fürsten unterworfen, gingen nicht in die Leibeigenschaft, hielten sehr lange an ihrer Großfamilie fest, trotzten den Zünften und fanden vielerlei Möglichkeiten als eigenständige Handwerker zu arbeiten, noch gaben sie ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Musik auf. Waren sie nicht willkommen, zogen sie weiter. Sie erregten Aufmerksamkeit durch ihr imposantes Auftreten, ihr fremdländisches Aussehen und wurden zum Ärgernis durch ihren Stolz, ihren Mut, ihre Eigenständigkeit. Viele Gründe, um sie zu diffamieren und zu verfolgen.

Versteckter Rassismus wird 1933 zum offenen, die Rassenideologie der Nazis wird zur Tat, zur systematischen Ausrottung der Sinti und Roma.

Der Völkermord an Sinti und Roma[1]

Bereits Ende der 20er Jahre hatte eine Polizeistelle in München mit der Erfassung der Juden und „Zigeuner“, der beiden sogenannten „außereuropäischen Fremdrassen“, begonnen. Vom Beginn der NS-Herrschaft an wurden Sinti und Roma ebenso wie Juden aus rassistischen Gründen verfolgt. Gleich 1933 verlangte das „Rasse- und Siedlungsamt“[2] der SS in Berlin, dass „Zigeuner und Zigeunermischlinge“ in der Regel unfruchtbar gemacht werden sollten.

„Artfremde Rassen“

Die „Nürnberger Gesetze“[3] des Jahre 1935 stellten Sinti und Roma in der gesetzlichen Verfolgung mit den Juden gleich. Und bereits am 3. Januar 1936 verfügte der Minister des Innern, Frick, in einer vertraulichen Mitteilung an alle Landesregierungen, Standesämter, Aufsichtsbehörden und Gesundheitsämter die Anwendung des „Blutschutzgesetzes“ und bemerkt: “Zu den artfremden Rassen gehören alle anderen Rassen, das sind in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner.[4]

Damit wurde zum ersten Mal in einem amtlichen NS-Dokument die Gleichstellung der Juden und Zigeuner offiziell angeordnet. Durch die Anwendung des „Reichsbürgergesetzes“ und des „Blutschutzgesetzes“ verloren Sinti und Roma zusammen mit den jüdischen Bürgern ihre deutsche Staatsbürgerschaft; Ehen zwischen Sinti oder Roma und sogenannten „Ariern“ wurden verboten. Neben der Lohnsteuer wurde eine „Rassensondersteuer“ eingeführt, da „... Zigeuner“ - laut der Parteikanzlei der NSDAP – „gewisse rassische Ähnlichkeiten mit den Juden aufweisen“.

Probleme hatten die Rasseideologen, weil von den Weimarer Behörden z.B. Menschen katholischen oder evangelischen Glaubens nicht als „Zigeuner“ erfasst worden waren. Deshalb musste zur „Rassendiagnose“ im November 1936 im Reichsgesundheitsamt in Berlin die „rassenhygienische und bevölkerungs-biologische Forschungsstelle“ („Rassenhygieneinstitut“) unter der Leitung des Tübinger Kinder- und Nervenarztes Dr. Robert Ritter eingerichtet werden. Dr. Adolf Würth, ein führender Mitarbeiter des „Rassenhygieneinstituts“, formulierte 1938 im „Anthropologischen Anzeiger“ als Zielvorstellung: „So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfrage gelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen.[5]

Die Absicht der Nazis zur „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ stand von Anfang an und lange vor Kriegsbeginn fest. Es ging nur noch um den pseudowissenschaftlichen Vorwand, um die organisatorischen Voraussetzungen und die Detailmaßnahmen zur Durchführung des Völkermordes. Die in den Hetzkampagnen der NS-Presse verbreiteten Verleumdungen wurden von Nazi-Wissenschaftlern zu „rassenbiologischen Erkenntnissen“ hochgestapelt. Im Grunde aber betrieb das Berliner „Institut für Rassenhygiene“ nichts anderes als eine systematische Ausgrenzung und Erfassung, auf deren Grundlage die Faschisten 500.000 Sinti und Roma bestialisch ermordeten. Die sogenannten „Rassengutachten“, unterzeichnet von Ritter, Würth u.a., waren die Todesurteile, die später den Ausschlag für die Deportation in die Konzentrationslager gaben. Die sogenannte „Evakuierung“ ins KZ oder die Zwangssterilisation empfahlen sie ausdrücklich.

Die Zentralisierung der terroristischen Machtorgane – mit Himmler als „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ (1936) stellte die Weichen für eine zentralisierte Verfolgung der Sinti und Roma und für den Aufbau eines entsprechenden Apparates von der Reichs- bis hinunter auf die Ortsebene.

1936 Die ersten Konzentrationslager als „Rastplatz“ getarnt

Eine erste große Verhaftungswelle lief im Frühjahr 1936 durch das Reichskriminalpolizeiamt an. In der Nähe mehrerer größerer Städte wurden mit der Tarnbezeichnung „Rastplatz“ sogenannte „Zigeunerlager“ eingerichtet, die bald KZ-ähnliche Bedingungen hatten. Die dazu durchgeführten Razzien hatten als unmittelbaren Anlass die bevorstehende Sommer-Olympiade in Berlin. Die von den städtischen Verwaltungen errichteten Konzentrationslager waren eingezäunt und wurden von der SS oder von Polizeikommandos bewacht. Erklärtes Ziel war die vollständige Isolation der Minderheit; jeder Kontakt mit der „deutschblütigen“ Bevölkerung sollte von vornherein verhindert werden. Zu diesem Zweck wurden begrenzte Einkaufszeiten sowie wenige, ausgewählte Geschäfte festgelegt; in denen Sinti und Roma einkaufen durften; die Benutzung bestimmter Verkehrsmittel war Sinti und Roma vielerorts ebenso untersagt wie der Besuch von Lokalen, Kinos oder Theatern. Aus den kommunalen Konzentrationslagern wurden Sinti und Roma – auch Kinder und Frauen – zum Zwangsarbeitseinsatz vor allem in den Straßen-, Hoch- und Tiefbau, die Land- und Forstwirtschaft, in Rüstungs- und andere kleinere Betriebe geschickt. Kommunale Konzentrationslager gab es in Köln, Düsseldorf, Danzig, Kiel, Pölitz bei Stettin, Magdeburg, Königsberg, Salzburg - Maxglan, Berlin-Marzahn, in Frankfurt/M., sowie in Lackenbach im Burgenland nahe der Grenze zu Ungarn, um nur die bekanntesten zu nennen. Die dort inhaftierten Familien waren der Willkür ihrer Bewacher schutzlos ausgeliefert, die Lebensbedingungen unterschieden sich kaum von jenen der großen Konzentrationslager, wohin auch die Insassen der kommunalen Lager unter einem beliebigen Vorwand jederzeit deportiert werden konnten. Nach Kriegsbeginn waren die kommunalen Konzentrationslager auch Durchgangsstationen zu den Todeslagern des Ostens.

1938 KZ Dachau und Buchenwald

Sinti und Roma wurden systematisch erfasst und erforscht. Auftraggeber war der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Nach den verschiedenen Mischlingsgraden sollte selektiert und – so die Sprache der Nazis – „ausgemerzt“ werden. Ab 1938 unterstand das „Rassehygieneinstitut“ direkt dem Reichssicherheitshauptamt. Vom 13. Juni bis August 1938 wurden bereits in einer Sonderaktion 2000 als „asozial“ stigmatisierte Sinti und Roma nach den Kriterien, – Zitat aus dem Nazi-Dokument: „Zigeuner männlich, erwachsen und standesamtlich nicht verheiratet“ in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald und später auch nach Mauthausen und die Frauen ins 1939 erbaute KZ Ravensbrück deportiert.

Im Oktober 1938 übernahm der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Himmler, die 1926 gegründete Zigeunerpolizeileitstelle in München samt Personal und Akten in das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin. Sie erhielt dort die neue Bezeichnung „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“[6] Am 8. Dezember 1938 erging Himmlers „Runderlass“ bzw. Grunderlass zur „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“[7]. Die „Feststellung der „Zigeuner“ - Zugehörigkeit habe das Reichssicherheitshauptamt aufgrund von Ritters Rassegutachten“ zu treffen. Bis Ende 1944 wurden rund 24.000 dieser sogenannten „Gutachten“ erstellt.

1940 Transport in die Arbeitslager

Am 27. April 1940 folgte Himmlers Anordnung zur ersten Deportation ganzer Sinti und Roma Familien in das sogenannte Generalgouvernement.

Der 16. Mai 1940 war für viele Sinti ein schicksalhafter Tag: Der Beginn der ersten großen familienweisen Massendeportation in die Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager in den besetzten polnischen Gebieten. 2.800 Sinti und Roma aus Hamburg und Bremen, aus dem Rheinland und Ruhrgebiet und aus den Gebieten Pfalz, Baden und Württemberg wurden jeweils in Hamburg (Fruchthalle im Hafen), Köln (Messehalle in Deutz) und auf dem Hohenasperg bei Stuttgart einige Tage zusammengesperrt und mit drei Zügen der Reichsbahn nach Osten verschleppt. In Polen wurden sie von der SS unter unmenschlichen Bedingungen als Zwangsarbeiter eingesetzt: In Steinbrüchen, im Straßenbau, in der Rüstungsindustrie. Andere kamen direkt in die Konzentrationslager. Die Pfälzer Sinti wurden zunächst östlich von Krakau in das Konzentrationslager Mnichov gesperrt und von dort aus zur Zwangsarbeit in weitere Lager deportiert. Die Sinti aus dem Raum Heidelberg-Mannheim-Ludwigshafen kamen später in das Ghetto von Radom. Viele Sinti und Roma aus Bonn, Köln, Duisburg wurden über Konzentrationslager bei Kattowitz und Mislowitz in das Warschauer Ghetto und nach Auschwitz gebracht. Über 5.000 Sinti und Roma aus der Steiermark und dem Burgenland wurden in das Ghetto Lodz deportiert und in einem abgeriegelten Teil untergebracht. Nach Ausbruch einer Typhus-Epidemie wurde das „Zigeunerlager“ unter strenge Quarantäne gestellt. Die Beerdigung der zahlreichen Toten erfolgte auf dem jüdischen Ghettofriedhof. Im Januar 1942 wurden die letzten Überlebenden in das Vernichtungslager Chelmno gebracht und dort vergast. Zu diesem Zeitpunkt hatten Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten in Polen, der Sowjetunion und in Südosteuropa bereits Zehntausende Roma systematisch ermordet. Der Verbündete Deutschlands Rumänien begann Ende 1941 mit der Ermordung von Roma, bis September 1942 starben dort rund 25.000 Menschen. Unmittelbar nach dem Balkanfeldzug im April 1941 hatten sich die Roma in Serbien registrieren lassen und gelbe Armbinden mit der Aufschrift „Zigeuner“ tragen müssen. Viele von ihnen wurden Opfer von als Vergeltungsmaßnahmen für Partisanenangriffe deklarierten Exekutionen. Nachdem das Deutsche Reich im Jahr 1941 in Kroatien einen Vasallenstaat unter dem Ustascha-Faschisten Ante Pavelic errichtet hatte, erging im Mai 1942 die Anordnung, sämtliche „Zigeuner“ festzunehmen. Allein in der Krajina wurden über 5.000 Roma gefangen genommen und in das Lager Jasenovac verschleppt, wo bis Kriegsende viele Tausende (die Schätzungen liegen zwischen 10.000 bis 40.000) Roma umgebracht wurden.

Vielerorts gab es Massenerschießungen durch die Wehrmacht und die Einsatzgruppen der SS, sogenannten „Geiselerschießung“ und sofortige Liquidierungen durch „Vergasungswagen“, abgedichtete Busse, in denen die SS Polen, Sinti und Roma mit den Autoabgasen erstickte.

Die Völkermordpolitik der Nationalsozialisten war in ihrem gesamten Ausmaß nur deshalb möglich, weil nahezu die gesamte deutsche Bürokratie vom Einwohnermeldeamt und Finanzamt bis zur Reichsbahn an der Durchführung des Vernichtungsprogramms in Deutschland beteiligt war. Für Hitler, Himmler, Göring, Goebbels und die Hierarchie des NS-Staates war der Völkermord beschlossene Sache. Ein deutlicher Beleg ist dafür ein Schreiben des Reichsministers der Justiz, Thierack, vom 12. Oktober 1942 an den Reichsleiter Bormann im Führerhauptquartier: „Sehr geehrter Herr Reichsleiter, unter dem Gedanken der Befreiung des deutschen Volkskörpers von Polen, Russen, Juden und Zigeunern und unter dem Gedanken der Freimachung der zum Reich gekommenen Ostgebiete... beabsichtige ich, die Strafverfolgung gegen Polen, Russen, Juden und Zigeuner dem Reichsführer SS zu überlassen. Ich gehe hierbei davon aus, dass die Justiz nur in kleinem Umfang dazu beitragen kann, Angehörige dieses Volkstums auszurotten.[8]

Eine weitere Variante der so offen ausgesprochenen Ausrottungspläne war das Programm der „Vernichtung durch Arbeit“. Die Nationalsozialisten waren daran interessiert, solange wie möglich noch die Arbeitskraft ihrer Opfer auszubeuten. Am 14. September 1942 notierte Reichsjustizminister Thierack als Ergebnis einer Aussprache mit Goebbels: „Hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels auf dem Standpunkt, dass Juden und Zigeuner schlechthin (...) vernichtet werden sollen. Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste.[9]

Als Zwangsarbeiter waren Sinti und Roma Opfer des Vernichtungsprogramms in SS-Unternehmen und in deutschen Rüstungsbetrieben. Sie wurden nicht nur in den großen Rüstungswerken von Siemens, Daimler-Benz, AEG, Heinkel, Messerschmitt, BMW, VW, IG Farben und Steyr-Daimler-Puch als Arbeitssklaven ausgebeutet, sondern überall in Europa auch in den kleineren Zulieferbetrieben der Rüstungsindustrie. Die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Betrieben waren ähnlich grausam und unmenschlich wie in den Konzentrationslagern selbst. Zwangsarbeit von täglich 12 bis 15 Stunden bei völlig unzureichender und mangelhafter Ernährung war die Regel; sie führte nach wenigen Wochen zu Unterernährung, Krankheit und Entkräftung und zum sicheren Tod. Hinzu kamen Tausende von Zwangsarbeitern, die von der SS bei der Arbeit misshandelt, erschlagen und erschossen wurden.

Über den Aufstand der Sinti- und Roma-Häftlinge in Auschwitz-Birkenau

„Wir wollten nicht kampflos in die Gaskammer gehen“

Publikation von Romani Rose (Mai 2004)[*]

... Am „Zigeunerlager“ fuhren Fahrzeuge vor, aus denen eine Eskorte von zirka fünfzig bis sechzig SS-Männern ausstieg, die mit Maschinengewehren ausgerüstet waren. Die SS-Männer umzingelten die von den Zigeunern bewohnten Baracken. Einige SS-Männer gingen in die Wohnbaracken hinein und riefen: ,Los, los.‘ In den Baracken herrschte völlige Ruhe. Die dort versammelten Zigeuner hatten sich mit Messern, Spachteln, Brecheisen und Steinen bewaffnet und warteten auf das weitere Geschehen. Sie gingen nicht aus den Baracken heraus. Unter den SS-Männern herrschte Unsicherheit. Nach einiger Zeit hörte ich ein Pfeifen. Die SS-Männer, die die Baracken umzingelten, stiegen wieder auf ihre Fahrzeuge und fuhren weg. Die Lagersperre wurde aufgehoben.“ Damit war der erste Liquidierungsversuch des „Zigeunerlagers“ Auschwitz-Birkenau gescheitert. Ganz offenbar zogen sich die mit dieser völlig unerwarteten Situation konfrontierten SS-Männer aus Angst vor Verlusten in den eigenen Reihen zurück, zumal die SS wusste, dass sich unter den Sinti- und Roma-Häftlingen zahlreiche ehemalige Wehrmachtsangehörige befanden. Sicherlich spielten auch Befürchtungen, der Funke des Widerstandes könnte auf die anderen Lagerabschnitte überspringen, eine Rolle bei dieser Entscheidung.

Mut der Verzweiflung

Den sicheren Tod in den Gaskammern vor Augen, hatten die sich in den Blocks verbarrikadierenden Menschen nichts zu verlieren. Es war der Mut der Verzweiflung, der sie den Entschluss fassen ließ, bis zuletzt um ihr Leben und das ihrer Angehörigen zu kämpfen. Einer der am Aufstand Beteiligten, Willi Ernst, erinnert sich: „Unser Blockältester hat uns im Mai 1944 gewarnt, dass wir vergast werden sollten. Daraufhin haben sich alle, so gut es irgend ging, bewaffnet. Ich selbst besaß ein Messer, andere hatten Werkzeuge, Knüppel. Wir wollten nicht kampflos in die Gaskammer gehen.“ Den Häftlingen des „Zigeunerlagers“ war es gelungen, die drohende Vernichtung trotz der Übermacht der schwer bewaffneten SS vorerst abzuwenden. Diese begann in der Folgezeit, alle „arbeitsfähigen“ Menschen aus dem „Zigeunerlager“ zur „Vernichtung durch Arbeit“ in andere Konzentrationslager im Reich zu transportieren. Dies betraf insbesondere jene ehemaligen Wehrmachtsangehörigen mit ihren Familien, die die wichtigsten Träger der Widerstandsaktion vom 16. Mai gewesen waren. Übrig blieben etwa 2900 Sinti und Roma, vor allem alte und kranke Menschen und Kinder. Sie alle wurden bei der endgültigen Auflösung „des Zigeunerlagers“ in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die Gaskammern getrieben. Obgleich diesmal jeder Widerstand aussichtslos war, widersetzten sich die Menschen bis zuletzt ihren Peinigern, wie Augenzeugen später berichteten. Auch der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, erwähnt in den vor seiner Hinrichtung verfassten Erinnerungen den verzweifelten Widerstand der Sinti und Roma in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944. Er schreibt: „Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen. Ich selbst habe es nicht gesehen, doch Schwarzhuber sagte mir, dass keine Judenvernichtung bisher so schwierig gewesen sei.“

* In: Politische Meinung (PM) 414/2004

1942 Vernichtungslager

Neben den Sammel- und Arbeitslagern wurden ab 1942 die direkten Vernichtungslager errichtet. Am 16. Dezember 1942 befahl der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Himmler im sogenannten „Auschwitz-Erlass“: „Auf Befehl des Reichsführers SS ... sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft ... in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen.[10]

Im März 1943 kam dann der endgültige Befehl: „Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad[11] familienweise in das Konzentrationslager ... Auschwitz.[12] Im Reichsgebiet begann daraufhin die Vorbereitung für die Endlösung. Die Polizei machte Jagd auf die letzten Opfer. Vor der Deportation erklärte man ihnen, jeder bekäme ein Stück Land im Osten. Die Realität aber war ein gesondertes „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau.

Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß und der in der Folterabteilung im Todesblock 11 beschäftigte Pery Broad berichten in ihren Aufzeichnungen über das sogenannte „Zigeunerlager“. Der SS-Mann Broad schreibt: „Es waren Mädchen, die in Wehrmachtsdienststellen als Stenotypistinnen tätig waren, Arbeiter der Organisation Todt, Schüler von Konservatorien und andere Menschen, die eine solide Existenz besaßen[13]. Hunderte von Soldaten, die nicht einmal wussten, dass sie als „Zigeuner-Mischlinge” galten, wurden vom Fronteinsatz herausgeholt, mussten ihre Uniform ausziehen. Darunter waren Träger des eisernen Kreuzes und anderer militärischer Auszeichnungen.

Die Sterblichkeitsrate im „Zigeunerlager“ war besonders hoch. Von den etwa 23.000 Menschen, die dort zwischen Februar 1943 und Juli 1944 zusammengepfercht wurden, starben über 13.000 an Unterernährung, Seuchen und infolge der Misshandlungen.

Außer dem Programm „Vernichtung durch Arbeit“, den Geiselerschießungen, den Massenmorden durch Einsatzgruppen hinter der Front, dem Tod im Lager, der Vergasung von Kranken und nicht Arbeitsfähigen hatte das Völkermordprogramm noch eine weitere, bestialische Variante: Die Menschenversuche der KZ-Ärzte. Im Dienste verschiedener Arzneimittelfirmen wurden riskante neue Medikamente und Impfstoffe ausprobiert, an denen zahlreiche Häftlinge starben. Universitätsprofessoren bestellten sich Sinti aus den Konzentrationslagern, um Fleckfieberversuche durchzuführen. Für die Luftwaffe wurde unter anderem auch in Dachau und Buchenwald die Meerwassertrinkbarkeit getestet. In Auschwitz holte sich Lagerarzt Dr. Mengele zu „Forschungszwecken“ (für das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin) Zwillingskinder aus den „Zigeunerbaracken“. Vor allem Kinder mit seltenen Augenfarben waren seine bevorzugten Opfer, die anschließend getötet und seziert wurden. Verschiedene Sterilisationsexperimente mit Injektionen und Röntgenstrahlen wurden in mehreren Konzentrationslagern auch an Sinti und Roma vorgenommen. Viele Männer und Frauen fanden dabei den Tod.

Von den erfassten rund 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden über 25.000 ermordet, darunter über 10.700 aus dem „Altreich“. Am 16. Mai 1944 konnten die noch im „Zigeunerlager“ lebenden Menschen in einer einmaligen Widerstandsaktion ihre Ermordung zunächst abwenden, nachdem sie sich mit Steinen und Werkzeugen bewaffnet in den Baracken verbarrikadiert hatten. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten fast 3.000 Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern ermordet und das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau aufgelöst.

Die Anzahl der vom Hitlerfaschismus ermordeten Sinti und Roma kann nur schätzungsweise mit 500.000 Menschen für ganz Europa angegeben werden. Diese Verbrechen wurden vor dem Internationalen Militärgericht 1946 in Nürnberg nicht behandelt und geahndet.

Der Völkermord wurde verleugnet

Die Leugnung und Verdrängung des Völkermordes an den Sinti und Roma führte nach 1945 dazu, dass die traditionellen antiziganistischen Vorurteile nicht bekämpft und schrittweise überwunden, sondern mehr oder minder ungebrochen tradiert wurden.

Diejenigen Sinti und Roma, die zurückkehrten, was die Ausnahme war, hatten einen Großteil ihrer Verwandten verloren, waren krank, gedemütigt, verstümmelt und unfruchtbar gemacht. Aller Besitz war verschwunden, Wohnungen vergeben und sie besaßen keinerlei Papiere und Dokumente. In die Verelendung getrieben, empfanden es viele wie die „zweite Verfolgung“.

Nach Kriegsende wurde in Bayern die Landfahrerzentrale als Nachfolgeinstitution der NS-Zigeunerzentrale eingerichtet. Sie arbeitete bis in die 70er Jahre mit den alten Nazi-Akten – „Zigeunerpersonalakten“ und „Rassegutachten“ – weiter, es saßen dieselben „Zigeuner-Spezialisten“ die die Transporte nach Auschwitz zusammengestellt hatten, in den Büros und betrieben jahrzehntelang die Sondererfassung weiter. Viele der Sinti und Roma blieben zunächst staatenlos, weil ihnen die Staatsbürgerschaft unter Hitler entzogen worden war. Erst vor ca. zehn Jahren bekamen die letzten von ihnen unter erheblichem öffentlichem Druck die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zurück.

Die meisten Sinti und Roma wurden von den Landesentschädigungsämtern um die Wiedergutmachung selbst für schwerste gesundheitliche Folgeschäden betrogen. 1956 nämlich hatte der Bundesgerichtshof in seinem menschenverachtenden Urteil geleugnet, dass Sinti und Roma schon vor 1943 aus rassischen – und nicht aus „kriminalpräventiven“ – Gründen schweres Unrecht zugefügt worden war: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist“. Dieses Urteil wurde 1963 zwar aufgehoben, die auf ihm beruhenden Fehlentscheidungen jedoch nicht. Die Landesämter für Wiedergutmachung folgten den obersten Richtern. Eine von vielen Ablehnungsbegründungen hieß: „Nach der vom BGH im Urteil vom 17.1.1956 vertretenen Auffassung stellt die im Mai 1940 aufgrund des Schnellbriefs des Reichsführers und Chefs der deutschen Polizei vom 27.4.1940...durchgeführten Umsiedlung der Zigeuner keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme aus Gründen der Rasse dar.“

1981 wurde eine Härteregelung für Betroffene durchgesetzt, und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma konnte in einzelnen Fällen Nachzahlungen erwirken. Dennoch mussten etliche Sinti und Roma noch bis in die 90er Jahre hinein gegen bundesdeutsche Nazi-Kontinuität und Schäbigkeit um ihre „Wiedergutmachung“ kämpfen.

Einige Beispiele der Kontinuität:

1948 gibt das Landeskriminalamt Baden Württemberg einen „Leitfaden zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ heraus. Der Leitfaden soll den Beamten als vorläufige Hilfe dienen bis zur „... endgültigen Lösung des Zigeunerproblems ...“ wie es in einem diesbezüglichen Schreiben heißt.

Im gleichen Jahr erlässt Bayern, basierend auf dem alten „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern und Arbeitsscheuen“ von 1926, seine „neue“ Zigeunergesetzgebung; die Landfahrerverordnung und um sie „grundgesetzfest“ zu machen, bekam die wieder funktionierende „Zigeunerdienststelle“ die Bezeichnung Landfahrerzentrale. Zu ihren Aufgaben wird vermerkt:

1. Durchführung von Personenstandsfeststellungsverfahren

2. Führen folgender Karteien:
a) Personenkartei
b) Lichtbildkartei
c) Zigeunernamenkartei
d) Merkmalskartei
e) Kraftfahrzeugkartei

3. Führen von Personen- und Familienakten

4. Zusammenarbeit mit anderen Behörden

5. Fahndung nach gesuchten Landfahrern

6. Kontrolle der Wohnwagenplätze

Mit Einsetzen der bundesdeutschen Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma begannen die behördlichen Maßnahmen, die Gruppe der Roma und Sinti nicht mehr ausdrücklich zu bezeichnen. Statt dessen wurden Maßnahmen unter der Bezeichnung:

– „HWAO Überprüfung“ (häufig wechselnder Aufenthaltsort)

– „TWE Meldedienst“ (Tageswohnungseinbrüche) durchgeführt.

Dieses neue Vorgehen ist Bestandteil einer wohlorganisierten kontinuierlichen „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ durch die Behörden.

In den so genannten TWE-Karteien werden insbesondere lagernde Gruppen von Sinti und Roma von den einzelnen Bundesländern bzw. den Landeskriminalämtern erfasst.

Die ursprünglichen „Nazi-Akten“, die von den Antragstellern für Wiedergutmachungsentschädigungen nicht eingesehen werden durften, wurden Jahrzehnte lang von den Gerichten gegen sie benutzt, so z.B. ihre „Einwilligung“ für Deportation und Sterilisierung.

Als zwischen 1964 und 1971 Ermittlungsverfahren gegen 46 Beteiligte am Völkermord liefen, waren diese Akten plötzlich verschwunden und blieben bis heute verschollen. Dabei handelt es sich auch um Unterlagen, die Belege für eine bürgerliche Existenz darstellen, wie Pässe, Geburtsurkunden, Arbeitspapiere usw.

Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass wegen des Fehlens der Beweise durch das Verschwinden der Akten, nicht einer dieser Schreibtischtäter für seine Beteiligung am Völkermord an den Roma und Sinti jemals zur Rechenschaft gezogen worden ist.

Dr. Robert Ritter, der „Rassenforscher“, der den Völkermord vorbereitete, wurde nach dem Kriege von der Stadt Frankfurt als Amtsarzt eingestellt und starb 1951 unbehelligt als Pensionär in Frankfurt.

Eva Justin, die Assistentin von Ritter, arbeitete bei der Stadt Frankfurt als „Jugendpsychologin“.

Sophie Ehrhard, ebenfalls Mitarbeiterin von Ritter, setzte ihre Universitätskarriere als Professorin weiter und forschte bis 1981 mit dem „anthropologischen Material“ der „Rassenbiologen“ über „Handleistensysteme der Zigeuner“.

Josef Eichberger, der SS-Mann, der im Reichssicherheitshauptamt die „Zigeuner“-Transporte organisierte, wurde in Bayern Leiter der „Landfahrerzentrale“, seine Gehilfen waren wieder die alten NS-„Zigeunerspezialisten“ Eller, Geyer, Wutz und Uschold.

Paul Werner, der SS-Standartenführer und Planer der Deportation von 1940 machte eine zweite Karriere und wirkte bis in die 60er Jahre als baden-württembergischer Ministerialbeamter.

Das von den Roma und Sinti geraubte Vermögen wurde der Bundesvermögensabteilung und später der Bundesregierung Deutschland einverleibt.

„Der vom NS-Staat systematisch ins Werk gesetzte Völkermord an der Minderheit der Sinti und Roma wurde nach 1945 jahrzehntelang aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt, und damit wurde auch ihr Aufstand in Auschwitz-Birkenau vor genau sechzig Jahren aus dem öffentlichen Gedenken ausgeschlossen. Erst die sich vor allem seit Ende der siebziger Jahre formierende Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma konnte einen allmählichen Bewusstseinswandel herbeiführen.

Wichtige Zäsuren waren die Gründung einer bundesweiten politischen Vertretung – des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma – im Jahr 1982 und die Einrichtung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg zu Beginn der neunziger Jahre. Hier ist seit März 1997 die weltweit erste Dauerausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma zu sehen, in der auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus dokumentiert und gewürdigt wird.“[14]

Rosa –
Fraktion Ausrichtung Kommunismus

1 Die folgenden Ausführungen stützen sich u.a. auf die ausgezeichnete Arbeit von Michail Krausnick: Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma. Gerlingen 1995

2 Auf Grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933

3 „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ und „Reichsbürgergesetz“ vom 15.9.1935.

4 Runderlass des Reichsministers des Innern vom 3.1.1936 über die „Durchführung des Blutschutzgesetzes“

5 Adolf Würth: Bemerkungen zur Zigeunerfrage und Zigeunerforschung in Deutschland. In: Anthropologischer Anzeiger, Stuttgart, August 1938.

6 Mit einer Sammlung von Erlassen zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, nach Michael Zimmermann, Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996

7 Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren vom 8.12.1938 über die Bekämpfung der Zigeunerplage. In: Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministers des Inneren, Jg. 99, Nr. 51, S. 2105-2110.

8 Dokumente des Internationalen Militärgerichtshofs Nürnberg, NO1784. Vorausgegangen waren eine Besprechung Thieracks mit Goebbels (14.9.) und die Vereinbarung mit Himmler vom 18.9.: das Programm der Vernichtung durch Arbeit betrifft neben Russen, Ukrainern und Juden auch die Zigeuner.

9 Nürnberger Dokumente, PS-682.

10 „Auschwitz-Erlass“ vom 16. Dezember 1942.

11 Himmler u.a. hatten die Vorstellung, dass „Mischlinge“ besonders minderwertig seien und einige wenige vermeintlich „Reinrassige“ zu Anschauungszwecken überleben sollten, was einige Historiker zu abwegigen Theorien veranlasste.

12 Schnellbrief des RSHA vom 29.1.1943. In: Institut für Zeitgeschichte München, Dc 17.02.

13 Pery Broad: Erinnerungen. In: KL Auschwitz in den Augen der SS, Höß, Broad, Kremer. Katowice 1981, S. 185 f.

14 Romani Rose: In Politische Meinung 414/2004

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Am 19.11.2003 protestierte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zusammen mit Holocaust-Überlebenden für die Errichtung eines nationalen Holocaust-Denk­mals vor dem Reichstag in Berlin

Am 19.11.2003 protestierte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zusammen mit Holocaust-Überlebenden für die Errichtung eines nationalen Holocaust-Denk­mals vor dem Reichstag in Berlin

„Zigeuner“ und Juden wurden schon in Strafedikten des frühen 18. Jahrhunderts oft gemeinsam genannt. Dieses Plakat aus Stralsund zeigt Strafen, die ihnen drohten, wenn sie ins Land kamen. In dem Topf wurden Brandeisen glühend gemacht, mit denen der Ausgepeitschte auf dem Rücken gebrandmarkt wurde.

„Zigeuner“ und Juden wurden schon in Strafedikten des frühen 18. Jahrhunderts oft gemeinsam genannt. Dieses Plakat aus Stralsund zeigt Strafen, die ihnen drohten, wenn sie ins Land kamen. In dem Topf wurden Brandeisen glühend gemacht, mit denen der Ausgepeitschte auf dem Rücken gebrandmarkt wurde.

Aus den sog. „Nürnberger Gesetzen“ vom 15.9.1935

Aus den sog. „Nürnberger Gesetzen“ vom 15.9.1935

Sinti und Roma im Warschauer Ghetto 1941-1943

Sinti und Roma im Warschauer Ghetto 1941-1943

Vierzig Sintikinder aus dem Kinderheim der St. Josefspflege in Mulfingen (BaWü) wurden am 8. Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nachdem sie Eva Justin, Mitarbeiterin von Ritter, als Forschungsobjekte für ihre Dissertation gedient hatten, wurden sie ins Gas geschickt.

Vierzig Sintikinder aus dem Kinderheim der St. Josefspflege in Mulfingen (BaWü) wurden am 8. Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nachdem sie Eva Justin, Mitarbeiterin von Ritter, als Forschungsobjekte für ihre Dissertation gedient hatten, wurden sie ins Gas geschickt.

Der Titel als deutscher Meister im Halbschwergewicht wurde dem Boxer Johann „Rukelie“ Trollmann bereits im Juni 1933, wenige Tage nach seinem Sieg über Adolf Witt, aus „rassischen“ Gründen aberkannt. In der gleichgeschalteten Fachpresse als „Zigeuner“ diffamiert, musste Trollmann seine Karriere aufgeben. Später wurde er aus der Wehrmacht ausgeschlossen, sterilisiert und in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg deportiert, wo ihn die SS am 9. Februar 1943 ermordete. 60 Jahre später wurde er Ende 2003 endlich rehabilitiert, sein Meistergürtel symbolisch noch lebenden Verwandten übergeben.

Der Titel als deutscher Meister im Halbschwergewicht wurde dem Boxer Johann „Rukelie“ Trollmann bereits im Juni 1933, wenige Tage nach seinem Sieg über Adolf Witt, aus „rassischen“ Gründen aberkannt. In der gleichgeschalteten Fachpresse als „Zigeuner“ diffamiert, musste Trollmann seine Karriere aufgeben. Später wurde er aus der Wehrmacht ausgeschlossen, sterilisiert und in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg deportiert, wo ihn die SS am 9. Februar 1943 ermordete. 60 Jahre später wurde er Ende 2003 endlich rehabilitiert, sein Meistergürtel symbolisch noch lebenden Verwandten übergeben.

Dachau, Ostern 1980. 12 Sinti gehen in den Hungerstreik, um die Öffentlichkeit über den Völkermord aufzuklären

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Demonstration vor dem Bundeskriminalamt im Januar 1983 von über 250 Sinti und Roma gegen ihre polizeiliche Sondererfassung

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Buchenwald 10.04.2005 (Quelle: Arbeiterphotografie)

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