Nach über einem Jahr Prozessdauer gegen die „13 von Clabecq“ (s.a.KAZ 294 u. 295), gegen die belgischen Stahlarbeiter, die aufopfernd und erfolgreich gegen die Schließung des Stahlwerkes „Forges de Clabecq“ gekämpft hatten, war es ihren Anwälten gelungen, mit einem 20-seitigen Dossier die Forderung nach Ablehnung des prozessführenden Gerichts in Nivelles vor eine Berufungsinstanz in Brüssel zu bringen. Ihre und die Hartnäckigkeit ihrer Klienten hatte Erfolg: nach mehreren ergebnislos vertagten Terminen sah sich das Berufungsgericht gezwungen, wenigstens einen der drei Richter (eine Richterin) wegen „Parteilichkeit“ abzulehnen. Damit sind alle während des Prozesses gefällten Entscheidungen (wie z.B. der Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen) hinfällig.
Die Anwälte hatten mehrere schwer wiegende Argumente gegen die Richter von Nivelles vorgebracht. So die Tatsache, dass besagte Richterin mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft verheiratet ist, der bei der Erstellung der Anklageschrift eine wichtige Rolle gespielt hatte. Solcherart Familienbande zwischen Ankläger und Richter konnten auf Dauer nicht durchgehen, der Prozess musste schließlich nach Gesetzeslage annulliert werden.
Allerdings vermied es das Berufungsgericht, sich mit weiteren schwer wiegenden Argumenten der Anwälte auseinander zu setzen, bzw. sie zu werten: weder ging es auf den Vorwurf der Befangenheit des gesamten Niveller Gerichts ein, noch auf den undemokratischen und ungerechtfertigten Ausschluss der Öffentlichkeit vom Prozess, noch auf die nachgewiesenen Falschaussagen von Polizisten und die in diesem Zusammenhang ziemlich schwer wiegende Tatsache, dass mit der Untersuchung der der Anklage zu Grunde liegenden Vorfälle kein Untersuchungsrichter beauftragt worden war – sondern die Gendarmerie. D.h. genau die schwer bewaffnete und aggressive Truppe, die im Prozess gleichzeitig als Opfer verschiedener Auseinandersetzungen mit den Arbeitern, als Zeuge, Ankläger und Ordnungsmacht auftrat. Auch den Fakt, dass das zuständige Ministerium entlastende Dokumente der Gendarmerieführung und des Innenministeriums zu den Vorfällen bei der Autobahnblockade zurückhielt, fand das Berufungsgericht keiner Erwähnung wert.
Trotzdem, alle Beteiligten auf Seiten der Kollegen sind sich einig, dass der Beschluss von Brüssel eine schwere politische Niederlage für die Gendarmerie, das Niveller Gericht und das Kapital darstellt, die Millionen Franken eingesetzt haben, um die 13 von Clabecq verurteilen zu lassen. Nicht zuletzt aber auch den Tausenden geschuldet, die während aller Prozesstermine am Gerichtsort anwesend waren oder sich in den Betrieben, den Gewerkschaften, Schulen, Familien und bei Kulturschaffenden für die praktische Solidarität mit den Kollegen von Clabecq eingesetzt haben.
Der Prozess wird neu aufgerollt
Natürlich ist das Zurückziehen einer Richterin noch kein voller Erfolg. Auch, wenn die Forderung nach sofortiger Einstellung des Clabecq-Prozesses jetzt umso lauter erhoben werden kann. Und sie wird es. Selbst die Führung der Gewerkschaft FGTB kann nicht mehr umhin zu fordern, dass „diese Maskerade des Clabecq-Prozesses beendet werden und alles getan werden muss, um diesen Prozess zu stoppen“.
Deutlich erleichtert, aber auch mit Zurückhaltung nahm Silvio Marra (einer der Hauptangeklagten) zum Stand der Auseinandersetzung Stellung:
„Im Klassenkampf gewinnst du nicht auf kurze Sicht, sondern nur mit der nötigen Ausdauer. Mehr als 10 Jahre habe ich als Gewerkschaftsverantwortlicher für Arbeitssicherheit für die Fabrik und das Wohl von 10. 000 Familien gekämpft. Ich bin einverstanden mit diesem Beschluss, aber für mich muss dieser Prozess damit auch beendet sein.
Wenn das aber nicht der Fall ist, dann bin ich bereit für einen neuen Kampf – und, wenn der wieder 10 Jahre dauert!“
(Solidair Nr.2, 12.1.2000)
Angeklagte fordern finanzielle Entschädigung
4,6 Millionen Franken, die fordern Roberto D’Orazio, Silvio Marra und fünf weitere Angeklagte im Clabecq-Prozess vom belgischen Staat. Als Entschädigung für das, was sie seit Beginn des Prozesses an Nachteilen und Einbußen hinnehmen mussten.
Dazu Anwalt Fermon: „Durch die Schuld des Gerichts von Nivelles ist all die Energie, die Zeit und das Geld, das die Angeklagten bis heute in den Prozess investiert haben, nutzlos verpufft. Um eine bestmögliche Verteidigung zu gewährleisten wurde z.B. für sechs Angeklagte ein Team von fünf Anwälten gebildet.
Jeder von uns investierte mehrere hundert Stunden in die Vorbereitung der Verteidigung. Dafür haben wir vorher eine Gesamtsumme von 2,4 Millionen Franken (120.000 Mark) abgesprochen, was für jeden Angeklagten, den wir verteidigen, 400.000 Franken bedeutet.
Hinzu kommt noch, dass die meisten Beschuldigten wegen der notwendigen Anwesenheit bei den Gerichtsterminen und einer drohenden Verurteilung keinen neuen Arbeitsplatz finden konnten. Für Roberto D’Orazio, der Elektriker ist, schätzen wir den finanziellen Verlust dadurch vorläufig auf 500.000 Franken. Hinzu kommen noch die vielen Fahrten zum Gericht, Telefonkosten usw., die wir auf 5.000 Franken veranschlagen. Und schließlich verlangen wir eine moralische Entschädigung in Höhe von 150.000 Franken.
Ein Gerichtsverfahren von über einem Jahr Dauer bedeutet für die Angeklagten und ihre Familien eine schwere Belastung, die in Zahlen überhaupt nicht zu fassen ist.
Es gibt individuelle Unterschiede bei den von uns erhobenen Entschädigungsforderungen, aber insgesamt kommen wir auf einen Betrag von 4.613.920 Franken (rund 240.000 Mark)“. (Solidair Nr.11, 15.3.2000)
Inzwischen steht fest, dass das Gericht in Nivelles mit drei neuen Richtern besetzt und der Prozess am 25. April wieder eröffnet wird. Es sollen täglich Sitzungen stattfinden, damit rechtzeitig vor Beginn der Fußballeuropameisterschaft 2.000 in Belgien genügend Polizei- und Gendarmeriekräfte zur Verfügung stehen ... (Stand: 10.4.2000)
lobo
Auf der Solidaritätskundgebung am 25.11.99 vor dem Gericht in Nivelles empfängt Roberto D’Orazio vor 1.500 Kollegen von der Gewerkschaftsdelegation des Betriebes Amoco-Ethyl in Feluy einen Scheck über 146.000 Franken (7.300 Mark) für die Finanzierung der Prozesskosten.