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Die SPD-Regierung - neue Perspektiven für das Kapital

September 1998 – Bundestagswahl!

Die Stimmung am Wahltag steigt. Gegen Abend wird bekannt, dass Kohl abgewählt wurde. Doch ich kann mich erinnern, dass vor dem Fernseher, in dem wir die Hochrechnungen mit Freunden verfolgten, keine rechte Freude aufkommen wollte. Warum denn nicht? Hatten wir es nicht geschafft, die Kohl-Regierung endlich zu stoppen?

Immerhin – nach 16 Jahren mit dieser Koalition war die Wut gewachsen; eine ganze Generation kannte nichts anderes als eine CDU/CSU und FDP-Regierung. Mehr Demokratie sollte her, ein Stopp der weiteren Beeinträchtigung der Lebensqualität. Noch in der letzten Legislaturperiode hatten hunderttausende Menschen im Protest gegen drohende Erwerbslosigkeit und Privatisierung der Bildungspolitik eine neue Regierung eingefordert. Seien es die Studentenbewegung, die Arbeiterdemonstrationen 1996 in Bonn oder die Massenkundgebungen kurz vor der Wahl in Berlin. Schließlich hatte sich unter allen anderen Verschlechterungen im Sozialbereich die Erwerbslosenquote von 1 Million auf 4 Millionen erhöht. Wer hatte denn noch ernsthaft geglaubt, dass diese Ziffer durch die Faulheit der Arbeiter gewachsen sei? Eine linke Alternative musste her, zumindest links von der CDU.

Zudem hatten sich die Drohungen gegen Jugoslawien verschärft, mehr noch, die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden stand im Mittelpunkt des Wahlkampfes. Wie hatte doch ein Joseph Fischer kurz vor der Wahl herumgepoltert, Deutschland könne sich – schon aus Verantwortung gegenüber dem Weltfrieden – keinen Krieg gegen Jugoslawien erlauben. Endlich mal jemand, der durch gewitzte Rhetorik den ,alten Säcken’ die Stirn bot. Wie ist er gegen das reaktionäre Gespann Kinkel-Rühe trügerisch zu Felde gezogen, sodass es dem Publikum einen Genuss bereitete, ihm zuzuhören!

Hier eine Kostprobe aus der Sendung „Großmacht Deutschland? – Parteien vor der Wahl“ (ZDF) im September 1998, in der unter Anwesenheit von Scharping, Kinkel und Gysi Fischer loslegte: „Angesichts dieser Situation dann gleich über Militärintervention zu reden und dieses, das sage ich nochmals, halte ich für hochgefährlich, wie Sie gegenwärtig hier rumeiern, denn eine andere Großmacht, die andere Interessen verfolgt, kann dann diesen Präzedenzfall, den Sie hier so lo­cker vom Hocker runterkonstruieren, auch einsetzen; Stichwort Baltikum, Stichwort Asien, dort sind große Mächte wie China, wie Russland, die in einer anderen Situation auf diesen Präzedenzfall sich ebenfalls beziehen können mit großen Konsequenzen, und deswegen sage ich, die Achtung des Völkerrechts und hier auch der Vereinten Nationen, des Sicherheitsrates, das ist kein pazifistischer Pipifax, sondern das liegt im Interesse der BRD und einer geordneten Zukunft dieser Welt. Und deswegen leg ich so großen Wert darauf, dass wir hier Klarheit schaffen und nicht freihändig Recht schöpfen, weil andere werden das auch tun, zum Leid der betroffenen Völker und zum Leid auch der internationalen Stabilität.“

Diese Worte, erwidert von Scharping mit väterlicher Ruhe, sollten die Bevölkerung in Sicherheit wiegen: „Im Übrigen ist sie (die Wehrpflicht) eine ganz gute Versicherung, dass die Bundeswehr für internationale Kriegseinsätze nicht verwendet werden kann, sie ist verpflichtet auf Landesverteidigung, sie ist verpflichtet auf Bündnisverteidigung.“ Ist die Argumentation Scharpings auch nicht nachvollziehbar, wird doch wenigstens ein Kriegseinsatz implizit ausgeschlossen.

Dass der Krieg dann weder ein Verteidigungsfall war noch unter UN-Mandat geführt wurde, ist bekannt, denn auch das Kapital hatte Erwartungen in die neue Regierung gesetzt.

Vorwärts zum Kapital

In seinem Buch „Rechte Genossen/Neokonservatismus in der SPD“ stellt der Autor Peter Kratz die Veflechtungen von SPD und Kapital auf über 300 Seiten dar. Hierbei geht es um das geheime Regierungsprogramm (verfasst bereits 1994), dessen Inhalte gewiss auf keinem Wahlplakat standen. Dass Schröder „vieles besser, aber nicht alles anders machen“ wollte, ließ alle Interpretationen offen. Werfen wir einen kurzen Blick hinter die Kulissen.

Die Tatsache, dass die SPD-Mitgliederzeitschrift „Vorwärts“ seitenweise Inserate des Monopolkapitals schaltet, ist für die politische Ausrichtung der Partei nicht uninteressant. In der Ausgabe 4/1990, so stellt Kratz fest, bestand mehr als 25% des Heftes aus Werbeanzeigen des Kapitals: „,Hochtechnologie steht hoch im Kurs’, heißt es da ganzseitig, z.B. in einer Anzeige des größten deutschen Unternehmens, das auch noch von einem SPD-Mitglied geführt wurde: Daimler-Benz, damaliger Chef: Edzard Reuter. Kauften einige der führenden Konzerne Europas – Siemens, Daimler-Benz und ihre Tochterunternehmen, auch der Bundesverband der chemischen Industrie oder die Energieversorgungsunternehmen – nicht Seite um Seite des ,Vorwärts’, manchmal ein Drittel des gesamten Heftes, für ihre Werbung, die SPD hätte keine Mitgliederzeitschrift mehr.“[1]Dass es bei Werbeanzeigen nicht bleiben kann, besagt schon ein Sprichwort: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“

Im April 1994 lud die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit dem Verband Deutscher Elektrotechniker im April zu einer Veranstaltung ein: „Hier waren neben einer Reihe von Wissenschaftlern auch acht Topmanager der Produktfelder Energie, Information/Kommunikation, Verkehr und Medizintechnik geladen, u.a. von Siemens Medizintechnik, (Siemens-) Kraftwerk-Union KWU, (Daimler-Benz-) AEG, dem AKW-Produzenten ABB (früher Brown Bovery) und Philips. Zu jedem Produktfeld waren hochkarätige Arbeitsgruppen eingerichtet. Die SPD-Politiker Catenhusen und Vosen moderierten.[2]

So weit so gut. Peter Kratz referiert über die bereits 1988 erkennbare Anbiederung desselben SPD-Catenhusen an das Kapital: „,Aufgrund ihrer wissenschaftlichen, technologischen, europa- und außenpolitischen (!) Bedeutung’ müsse die Weltraumforschung und -technik ,national und im Rahmen der ESA (European Space Agency) fortgesetzt werden’.[3], forderte dieser im März 1988.

Folgerichtig bewertet der Autor des Buches das Wahlprogramm der SPD von 1994 entsprechend: „Die ökonomischen Eroberungen (Deutschlands) werden militärisch abgesichert: Bundeswehreinsätze weltweit, Aufbau einer Europaarmee als Eingreiftruppe im Rahmen der Westeuropäischen Union WEU. Die Deutschen müssen heute in den Weltraum hinaus, so wie zu Kaisers Zeiten auf die Weltmeere.[4] Es war somit nur noch eine taktische Frage, wann die SPD an die Regierung gehievt werden sollte, denn dieses Programm hätte das Kapital auch bei der CDU haben können.

Das Proletariat hat geglaubt, allein durch Wahlen eine fortschrittlichere Regierung zu bekommen und somit seine Lebenssituation ohne Kampf zu verbessern. Sich dieser Schwäche der Arbeiterbewegung bewusst, konnte das Kapital scheinbar von links Positionen durchdrücken, die bei einer CDU, als offene Angriffe der Reaktion, größeren Widerstand hervorgerufen hätten – im Inland wie im Ausland.

Zunächst sollte die ohnehin schwache Opposition zur alten Regierung durch die Regierungsübertragung an die Sozialgrünen gelähmt werden. Turbulenzen innerhalb der Bevölkerung wegen des Jugoslawienkrieges konnten beispielsweise weitestgehend verhindert werden, die Regierung hat eine wichtige Aufgabe erfüllt: der deutsche Imperialismus ist militärisch wieder handlungsfähig, im Namen der Einhaltung von Menschenrechten, versteht sich. Dies konnte nur im Namen dieser Regierung bei breiten Teilen der Bevölkerung als vermeintlich antifaschistische Aktion, als „Lehre aus Auschwitz“ durchgehen. Und in diesem Sinne geht es dann gleich weiter – gegen den Rest der Welt.

Der neue „Internationalismus“

Dass dem Kapital hiermit ein entscheidender Schachzug gelungen ist, darüber sind sich weite Kreise antikapitalistisch orientierter Menschen einig – doch das Spiel geht weiter. Jetzt, nachdem Deutschland wieder Kriege führen darf, möchte es überhaupt nicht mehr eingeschränkt werden. Das Motto heißt: militärische Loslösung von den USA. Und wer, wenn nicht die Linken, wären aufgerufen, den US-Imperialismus in seine Schranken zu verweisen? Da waren sich der linke Juso Schröder und der Straßenkämpfer Fischer schon immer einig: Kampf dem amerikanischen Imperialismus!

Da gilt es sich zu verbünden, mit den anderen Linken, den Regierungssozialisten Englands und Frankreichs.

Doch macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sich die Völker der Welt einig sind im Sinne der antiimperialistischen Solidarität wie im Kampf um Vietnam oder ob man gegen die Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden protestiert. Die Forderung nach weniger Einfluss des amerikanischen Imperialismus im Namen auch noch der Bundesregierung geht allemal zu Gunsten des Einflussbereiches des deutschen Imperialismus. Vollendeter Antiamerikanismus im Bündnis mit dem deutschen Kapital heißt daher konsequenterweise: dritter Weltkrieg.

Hatte die Kohl-Regierung die Aufgabe, ein deutsch-französisches Bündnis zu festigen, obliegt es dem neuen Kanzler, Großbritannien an Deutschland zu binden. Zu Kohls Zeit standen Thatcher und Major noch als Garant dafür, die deutsche Großmachtpolitik vor den Britischen Inseln zu stoppen. In dem Artikel „Why can’t we love the Germans?“ schreibt The Guardian am 18. Januar dieses Jahres: „Der deutsche Kanzler, Gerhard Schröder, möchte, dass der Dreh- und Angelpunkt der Europäischen Union, die Achse Berlin-Paris, zu einem Dreieck wird, das London einschließt, wobei Blair der Verbesserung der Beziehung zu Deutschland Priorität eingeräumt hat.[5]

Das ist der Kern sozialdemokratischer Außenpolitik: Kollaboration und Provokation. Auf der einen Seite diplomatische Vereinbarungen – so tun als ob –, auf der anderen Seite Untergrabung, Schwächung und Aushöhlung der britischen Ökonomie – siehe BMW-Rover! Doch bevor sie wieder abgelöst wird, möchte die SPD noch den drückenden Modergeruch der Vergangenheit mit frischem grünen Wind fortwehen.

„Deutschland wieder gutgemacht?“

So hieß eine der vielen Veranstaltungen zur Entschädigung der Zwangsarbeiter, in diesem Fall mit dem Widerstandskämpfer und KZ-Häftling Kurt Goldstein.

Es ist einfach eine Unerhörtheit, die ausstehenden Gelder nicht zahlen zu wollen, bzw. mit einer Einmalzahlung den größten Schandfleck der Geschichte vom Tisch haben zu wollen. Die Opfer der Zwangsarbeit haben schon immer, wenn es ihnen irgendwie möglich war, auf Entschädigung geklagt. Hat Schröder kurz nach der Wahl übelste antisemitische Hetze[6] von sich gegeben, will er sich jetzt als Gönner aufspielen und den deutschen Imperialismus vor der Weltöffentlichkeit wieder reinwaschen.

Denn interessanterweise wurde die Verhandlung über eine pauschale Abgeltung überhaupt erst aufgebauscht, als die Deutsche Bank die amerikanische Bankers Trust schluckte.

Ausgerechnet Graf Lambsdorff – FDP (Flick-Affäre) wird als Verhandlungsführer für die deutsche Bourgeoisie von der SPD eingesetzt. Hier ein Beispiel seines deutschen Herrenmenschendenkens aus jüngster Zeit: „Die Beschäftigung von Ostarbeitern in der deutschen Landwirtschaft ist eine natürliche historische Erscheinung. Sie haben schon immer so gearbeitet und tun dies sogar heute,[7]

Darüber hinaus ist es äußerst traurig, dass beim Schreiben dieses Artikels noch erhebliche Summen der Zahlungen ausstehen. Anstatt im Zuge der Klagen der Zwangsarbeiter sich für das Kapital stark zu machen mit der Aussage, man müsse die Industrie schützen um Arbeitsplätze zu sichern, wäre es doch für eine SPD-Regierung angemessener, eine sofortige Zahlung der Gelder zu leisten und dann bei den Unternehmen und Kommunen einzufordern - allerdings ohne jeden Schlussstrich unter die faschistische Vergangenheit. Solange es noch irgendeinen Menschen gibt, der diese Barbarei überlebt hat, sollte er oder sie eine Zahlung erhalten, und zwar keineswegs nur eine „symbolische“. Doch die SPD wäscht ihren Totengräber von gestern wieder rein. Gab es denn nicht etwa auch Zwangsarbeiter aus den eigenen Reihen...?

Die Aushebelung des gesamten bürgerlichen Rechts einschließlich dem auf freie Arbeitsplatzwahl mit den damit verbundenen Morden kann nicht wieder gutgemacht werden. In diesem Sinne sollte die SPD sich davor hüten, den Befreier des Kapitals zu spielen. Das tat sie bekannterweise schon mal in der deutschen Geschichte und das rettete sie nicht vor der Tyrannisierung der eigenen Genossen.

Tatsächlich arbeitet sie auch jetzt ironischerweise gegen sich selbst. Denn solange sie regiert, kann eine CDU vom rechten Flügel und von der CSU in aller Seelenruhe seziert werden, ohne dass es zu einer Regierungskrise kommen würde.

Sicherlich, das sind dankbare Dienste für das Kapital. Doch wird es nicht mehr lange auf sich warten lassen, bis es heißt: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Doch wohin, weiß bisher niemand.

Arbeitsgruppe „Entwicklung der SPD“

1 Kratz, Peter: Rechte Genossen, Neokonservatismus in der SPD, Elefanten Press Berlin, 1995, S. 46.

2 Ebd., S.46

3 Ebd., S.50

4 Ebd., S.54

5 eigene Übersetzung

6 Vgl. KAZ Nr. 290, Klassenkampf nach Kohl, S. 48f.

7 Frankfurter Rundschau, 27.10.99

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