5. November 1917 – das waren noch nicht die Kanonenschläge der „Aurora“ in Petrograd, das war der erste kräftige Schrei von Kurt Gossweiler im Schwabenland.
Die Emanzipation des jungen Gossweiler vom Mutterleib fiel beinahe zusammen mit dem großen Emanzipationsschritt der Menschheit von Ausbeutung und Krieg. Der dort in Stuttgart zur Welt kommt wird ein Jahrhundert erleben voller Konvulsionen:
Die Bourgeoisie im Niedergang, Kapitalismus in seinem höchsten und letzten Stadium und am Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats, Aufsteigen des Sozialismus, seine Triumphe und bitteren Niederlagen. Der erste Weltkrieg, den Sieg der Oktoberrevolution und die Niederlage der deutschen Revolution, den Machtantritt des Faschismus, die Vorbereitung und den Beginn des zweiten Weltkrieg durch die Nazis, die Niederlage der Naziarmeen, der Sieg der Sowjetunion und die Herausbildung eines sozialistischen Lagers, der Kampf um ein einiges, freies und sozialistisches Deutschland, die Zersetzung der kommunistischen Weltbewegung und unsere Niederlage von 1989. Das sind Marksteine am Weg des Genossen Gossweiler. Zwei Weltkriege – das sind die Wegbegleiter.
Nicht nur Erleben, nicht nur passiv erleiden, Kurt Gossweiler wollte eingreifen, mitgestalten an der Seite der Klasse, der die Zukunft gehört. Als sozialistischer Schüler, als Mitglied des KJVD im Widerstand gegen den Faschismus, die Erkenntnis, dass der Hauptfeind im eigenen Land in der eigenen Armee steht, sein Desertieren aus der Wehrmacht zur Roten Armee, seine Zeit in der Antifa-Schule in der Sowjetunion, in der Bezirksleitung Berlin der SED.
Und dann als Gelehrter, als Historiker an der Humboldt-Universität und der Akademie der Wissenschaft der DDR.
So habe ich ihn auch das erste Mal kennen gelernt: Kurt Gossweiler als Autor des Buches „Großbanken – Industriemonopole – Staat, Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932“. Als junger Student der Wirtschaftswissenschaften im imperialistischen Teil Deutschlands, der wissen wollte, wie es dazu kommen konnte zur Barbarei im Land der Dichter und Denker und der sich nicht mehr mit der damals gängigen Theorie zufrieden gab, dass die Nazis über uns gekommen seien vom fremden Stern und sich mit den Linken hochgeschaukelt hätten.
Gossweiler war für mich die Referenz, die am gründlichsten den Nachweis geführt hatte, dass die Bourgeoisie der Hitlerei zur Macht verholfen hatte, dass das deutsche Finanzkapital und seine aggressivsten Teile die Verantwortung für Faschismus und Krieg tragen. Er war die wissenschaftliche Autorität für mich, der die großen politischen und ökonomischen Linien des 20. Jahrhunderts aufzeigte und seine Argumentation mit akribisch aufgeschlossenen Quellen belegte. Ein Wissenschaftler par excellence, der zwar geleitet von unserer Theorie, sie aber jederzeit auf den Prüfstand der Fakten stellt.
Marx sagt einmal: Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.
Die bürgerlichen Historiker schaffen, transportieren und verfestigen diesen Alpdruck auf unseren Gehirnen.
Proletarische Historiker haben die Aufgabe diese Traditionen zu kritisieren, gegebenenfalls mit ihnen aufzuräumen oder sie für das Leben d.h. den Klassenkampf des Proletariats nutzbar zu machen. Neben der bereits genannten Schrift seien hier noch hervorgehoben: „Die Röhm-Affäre“, „Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919 bis 1924“, und die „Aufsätze zum Faschismus“
Das Proletariat von seinen Alpträumen zu befreien – das war und ist die Berufung von Kurt verstärkt seit 1989. Als die DDR vom deutschen Imperialismus einverleibt wurde, die Konterrevolution im Weltmaßstab triumphierte, als für Viele eine Welt zusammenbrach, Viele ihrem Leben eine Ende setzten, andere zu Wendehälsen wurden, war Kurt unermüdlich aktiv. In Gesprächskreisen, auf Veranstaltungen, in Bibliotheken und am Schreibtisch. Wie konnte es dazu kommen, wie war dieser Schlag auf die Hirne der Lebenden möglich geworden, wie kann dieser Alpdruck überwunden werden?
So kamen wir westdeutsche Kommunisten, die im imperialistischen Teil des Landes noch zur roten Fahne unserer Klasse gestanden hatten, wieder in Kontakt mit Kurt Gossweiler: Erste Briefe, Kontakte, Veranstaltungen und dann die Veröffentlichung „Die vielen Schalen der Zwiebel Gorbatschow“ in der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ, Februar 1993, nachgedruckt u.a. in Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus , München 1997)
Zuvor hatte Kurt schon die „Thesen zur Rolle des modernen Revisionismus bei der Niederlage des Sozialismus“ in den Weißenseer Blättern 4/1992) veröffentlicht (s. auch: Wider den Revisionismus). Diese Thesen werden in großem Maße der Ausgangspunkt für seine Forschungsarbeiten und Publikationen bis heute sein.
Er knüpft dabei wiederum an seinen Kampf gegen den modernen Revisionismus an, den er auch in der DDR und als Historiker des Faschismus geführt hatte. Eine Kostprobe:
„Der Sozialdemokratismus ist seit Jahren darum bemüht, die flexible Variante imperialistischer Politik, wie sie z.B. in der ‚neuen Ostpolitik’ der Brandt-Scheel-Regierung praktiziert wird, als eine echte Alternative zur offen aggressiven politischen Linie etwa eines Franz Josef Strauß anzubieten. Der moderne Revisionismus unterstützt solche Bemühungen durch die Verbreitung der These, die flexible, raffiniertere imperialistische Politik sei eine Linie ‚vernünftiger’, ‚realistischer’ Politiker, die sich zur friedlichen Koexistenz und damit zur Absage an das Ziel der Beseitigung des Sozialismus bekehrt hätten. Ultralinke Abenteurer wiederum treten mit der Behauptung auf, die Unterschiede der beiden taktischen Linien der Politik des Imperialismus seien für die Arbeiterklasse völlig ohne Belang, so dass man sie überhaupt nicht berücksichtigen dürfe.“ (Großbanken-Industriemonopole-Staat, S. 9)
Dies 1971 geschrieben! Ein Schlag gegen die Entspannungspolitiker in Bonn, aber auch in Moskau und Berlin, Hauptstadt der DDR.
1993 wird Gossweiler den politisch-ideologischen Kern des Revisionismus folgendermaßen charakterisieren: „Ersetzung des Klassenkampfs durch Klassenversöhnung, Ersetzung des proletarischen Internationalismus durch bürgerlichen Nationalismus“ (Wider den Revisionismus, S. 394). Und er wird als Ausgangspunkt für die massive Verbreitung dieser Ideologie in den kommunistischen Parteien Chruschtschow und den XX. Parteitag der KPdSU von 1956 benennen. Kurt Gossweiler wird als der Historiker in die Geschichte eingehen, der in der Zeit einer schlimmsten Niederlage des Sozialismus die Rolle Stalins untersucht und als die eines großen Revolutionärs und des bedeutendsten Führers der kommunistischen Weltbewegung zu seiner Zeit gewürdigt hat. Und der so wieder den Blick weg gelenkt hat von der Rolle der führenden Persönlichkeiten in unserer Bewegung. Und ihn hinlenkt zu den Aufgaben, die diese Bewegung zu lösen hat (und damals zu lösen hatte). Und hin zu der Frage, mit und gegen welche Kräfte diese Aufgaben zu bewältigen sind.
Kampf gegen den Revisionismus – das kann in der leidvollen Erfahrung der proletarischen Bewegung leicht verbunden werden mit den übelsten Doktrinären, mit ultralinken Phrasendreschern und kleinbürgerlichen Abenteuerern.
Kurt Gossweiler ist das gerade Gegenteil davon. Er führt den Kampf gegen den Revisionismus nicht aus einer Position des „Vollbesitzes der Wahrheit“. Gossweiler führt ihn als Wiederherstellung der revolutionären Seele des Marxismus und des Leninismus, in Erkenntnis der Notwendigkeit und des Willens zur Veränderung der Welt, damit sie von den Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt in ihren Besitz genommen werden kann – ganz und für immer!
Dafür gilt Dir – und natürlich auch Deiner Frau und Genossin Edith - unser Dank, unsere Anerkennung und unsere Verehrung. Die lässt Du ja bekanntermaßen nicht zu, da Du nicht zum Aufschauen erziehst, sondern zum In-die-Augen-Schauen, Dir als Freund und Genossen, und immer wieder den Tatsachen.
Ein roter Gruß von den Genossen der KAZ und von einem anderen Stuttgarter Genossen, der schon vor ein paar Jahren das ausgesprochen hat, was uns verbindet und noch so fehlt:
„Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen,
die noch die Mutter aller Siege war!
Wie mag ein Dichter solches Wort verfemen,
ein Wort das alles Herrliche gebar?
Nur offen, wie ein Mann: Für oder wider?
Und die Parole: Sklave oder frei?
Selbst Götter stiegen vom Olymp hernieder
und kämpften auf den Zinnen der Partei!“
(Georg Herwegh, Die Partei, 1842)
Für die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ), Corell