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18. März 1945: Gründung des FDGB Aachen

Noch am 20. Oktober 1944 hatte der letzte Kampfkommandant der faschistischen Wehrmacht in Aachen, Oberst Wilck, an das Führerhauptquartier in Berlin gefunkt: „Wir kämpfen weiter, es lebe der Führer!“

Um 12.05 Uhr am folgenden Tag, dem 21. Oktober 1944 musste Wilck die von ihm unterschriebene Kapitulationsurkunde an die amerikanischen Truppen übergeben. Aachen wurde damit als erste deutsche Großstadt von der Naziherrschaft befreit.

Nicht lange danach, bereits im November 1944 trafen sich die alten Gewerkschafter und erklärten Nazigegner Mathias Wilms, Peter Spiegelmacher, Anna Braun-Sittarz, Heinrich Hollands, später Verleger der Zeitung „Aachener Nachrichten“, Jean van Wersch und Nikolaus Kreitz. Sie hatten sich zusammen getan, um Lehren aus den Fehlern der eigenen Geschichte zu ziehen. Aus der Uneinigkeit und Spaltung der Arbeiterbewegung in politische Richtungsgewerkschaften, die mit dazu geführt hatte, dass die Hitler-Faschisten die Macht ergreifen konnten. Ihr Ziel war die Gründung einer Einheitsgewerkschaft. Wegen des noch bestehenden Versammlungsverbotes mussten sie sich zunächst noch illegal treffen, um die Gewerkschaftsgründung vorzubereiten. Im Dezember 1944 erlaubte dann der damalige oberste Chef der amerikanischen Militärverwaltung, Dwight D. Eisenhower, in einer Bekanntmachung, die Neugründung von Gewerkschaften. Nach voran gegangenen Zulassungsverhandlungen durch mehrere der o. g. Gewerkschafter, wurde die Erlaubnis am 14. März 1945 dazu erteilt und am 18. März 1945 durch die Gründungsversammlung beschlossen[1].

13-Punkte-Programm des FDGB Aachen

1. Mithilfe zur Verständigung der Völker untereinander und Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsbewegungen der Welt

2. Aufklärung durch Wort und Schrift, insbesondere bei der Jugend, über die Verständigung der Völker untereinander

3. Kampf gegen preußischen Militarismus und Faschismus

4. Mithilfe an der Entfernung der Nazis aus Wirtschaft und Verwaltung

5. Vertretungen der Gewerkschaften in allen Zweigen des öffentlichen Lebens

6. Wiedereinführung des Arbeitsrechts

7. Regelung der Lohnfragen und Ferien

8. Wiedereinführung des Achtstundentages evtl. der Vierzigstunden-Woche

9. Wiedereinführung des Streikrechts

10. Unterdrückung der Werkschutzvereine

11. Sicherstellung der Arbeitsfrontbücher

12. 1. Mai gesetzlicher Feiertag

13. Arbeiter, Angestellte und Beamte, die Mitglied der NSDAP waren, können Mitglied werden, aber keine Funktion ausüben

„Ein großer Tag für die deutschen Arbeiter“

Als diese Schlagzeile nach dem 18. März 1945 in den „Aachener Nachrichten“, der ersten, von den Alliierten wieder zugelassenen Zeitung in Deutschland zu lesen war, bezahlten die Alliierten Streitkräfte noch einen hohen Blutzoll zur Befreiung der Welt von Faschismus und Krieg. Gleichzeitig verstärkten die SS-Verbrecher im Angesicht der bevorstehenden Niederlage nochmals ihr Wüten und ihre Gräueltaten in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Im Auftrag des deutschen Monopolkapitals folterten und ermordeten sie dort noch Zigtausende Häftlinge durch Erschlagen, Erhängen, durch Genickschüsse, Vergasen, durch willkürliches Erschießen und auf andere bestialische Art und Weise.

Unter den Augen der Arbeiterbewegung sollte so etwas nie mehr geschehen können. Über 80 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Christen und Kommunisten, hatten aus diesem Grunde die Einheitsgewerkschaft, den „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund Aachen“ gegründet. Sie beschlossen hierbei einstimmig das späterhin als Aachener FDGB-Programm bekannt gewordene nebenstehende 13-Punkte-Programm. Das erste Gewerkschaftsprogramm nach der Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Hitlerfaschismus.

Deb Myers, amerikanischer Militärjournalist, beschrieb Atmosphäre und Menschen in Aachen auf der Gründungsversammlung des FDGB (Army-Illustrierte „Yank“ vom 24. Juni 1945):

Stille trat ein in dem langen Raum im Haus der Aachener Handwerkskammer in der Couvenstraße. Der hagere, kahlköpfige Mann vorne am Rednerpult hob mit zitternden Händen ein paar Blätter auf und begann zu reden. Er sprach langsam und feierlich, als wollte er seine Worte so eindringlich halten, dass ihn alle verstehen müssten: ‚Unser unterbrochener Kampf gegen den Faschismus geht weiter. Von diesem Augenblick an gibt es wieder eine freie Gewerkschaft in Deutschland.’

Er hielt inne und blickte auf die 80 Menschen vor sich im Saal. Die Männer hatten schwielige Hände; ihre Gesichter waren wettergegerbt. Die wenigen Frauen hatten Kopftücher umgebunden. Ihre Kleidung sah alt und abgetragen aus. Der Mann am Rednerpult fuhr fort: ‚Es war ein langer Weg bis hierher. Viele sind nicht mehr unter uns.’ Zweimal bewegten sich seine Lippen, als wolle er fortfahren mit seiner Rede, die er niedergeschrieben und so oft schon durchgelesen hatte. Er stockte, schüttelte den Kopf. ‚Das ist alles’, sagte er und setzte sich.

Mathias Wilms hieß dieser Mann. Er stammte aus Aachen und war gelernter Weber. Mit seiner Rede hatte er soeben die Bildung des ‚Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes’ in Aachen bekannt gegeben. Damit war in Deutschland die erste freie Gewerkschaft zugelassen seit dem 2. Mai 1933, dem Tag, an dem Hitler die Gewerkschaften zerschlagen hatte.

Die in der Handwerkskammer anwesenden alten Gewerkschafter wählten Anna Braun-Sittarz, Mathias Wilms, Toni Valder, Nikolaus Kreitz und Peter Spiegelmacher in den Vorstand des FDGB Aachen. Der Gewerkschafter Jean Allelein rückte für A. Braun-Sittarz in den Vorstand nach, als diese bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Zum Geschäftsführer wurde Mathias Wilms gewählt.

Wie Spiegelmacher auch, war er Sozialdemokrat und aktiv im Widerstand gegen Hitler. Beide wurden wegen Vorbereitung zum Hochverrat 1935/36 von den Nazis hinter Gitter gebracht. Wilms kam dabei für 18 Monate nach Siegburg ins Gefängnis. Wie er später im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Myers berichtete, entwickelte er dort gemeinsam mit einem kommunistischen Kollegen die Idee von der Einheitsgewerkschaft. In diesem Sinne trat er auf der Gründungsversammlung des FDGB für die Überwindung parteipolitisch gebundener Richtungsgewerkschaften ein: „Wenn wir auch zur Zeit nur eine Lokalorganisation darstellen, so müssen wir doch den Weg zur Zentralorganisation der Gewerkschaften beschreiten. Es hat sich erwiesen, dass Berufsgruppen- und Lokal-Gewerkschaften nicht richtig waren, deshalb müssen wir die Zentral-Organisation erstreben.

Zum neu gegründeten Aachener FDGB vertrat Wilms im o. e. Interview die Meinung: „…der Kern unserer Gewerkschaft ist in Ordnung. Alle Leute in der Spitze sind gestandene Antifaschisten. Alle, die in führenden Positionen sind, waren im Gefängnis oder KZ.“ Wilms lächelte betrübt: „Es ist ein trauriges Zeugnis für ein Land, wenn die Menschen, denen du vertrauen kannst, die sind, die im Gefängnis waren.“

Wilms sagte weiter, er hoffe vor allem, dass die Gewerkschaft frei bleibe vom „Parteiengezänk - der Zersplitterung in verschiedene politische Richtungen. Zu einem Teil war es ein Fehler der deutschen Arbeiterbewegung, dass Hitler überhaupt an die Macht kam“, erklärte er. „Wären wir einig gewesen, hätten wir ihn aufhalten können. Aber nein, es machte mehr Spaß – und war weniger schmerzlich – untereinander als gegen Hitler zu kämpfen“.

Die rechten sozialdemokratischen Führer des damaligen „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ ADGB hatten alle Bestrebungen und Versuche, die Einheit der Arbeiterklasse gegen die Faschisten herzustellen, verhindert und die entsprechenden Einheitsfrontangebote der KPD und die Forderung nach Generalstreik immer wieder abgelehnt. Anstatt die Arbeiter dazu aufzurufen – das wäre am 30. Januar 1933 noch möglich gewesen – um den Hitlerfaschismus an der Macht zu verhindern, buhlten sie um die Gunst der Nazis. Am 25. März 1933, fast zwei Monate nach der Machtübertragung an die Faschisten, schrieben sie in der Gewerkschaftszeitung: „Die sozialen Aufgaben der Gewerkschaften müssen erfüllt werden, gleichviel welcher Art das Staatsregime ist.“ „Welcher Art das Staatsregime ist“ bzw. werden sollte, hatte Hitler mit der Verhaftung Tausender Antifaschisten und dem Verbot von KPD und den Organisationen Rotfrontkämpferbund, Eiserne Front und Reichsbanner und der Errichtung des ersten Konzentrationslagers in Dachau (20. 03.1933) bis spätestens Ende März 1933 längst klar gemacht. Doch die ADGB-Führer schickten unbeeindruckt davon, ihre Vertreter im März und April 1933 in den so genannten „Führerkreis“. Gemeinsam mit christlichen und anderen Gewerkschaften führten sie dort Gespräche und Verhandlungen mit den Nazis zur Gründung einer national-völkischen „Einheitsgewerkschaft“, der späteren „Deutschen Arbeitsfront“ DAF.[2]

„Alle, die zu feige waren, dem Nazismus zu trotzen, sind schuld am Elend der Unschuldigen“

Sie war in gewissem Sinne der einzige Mann unter den Radikalen, die ich in Aachen getroffen habe“, schrieb US-Offizier S. Padover über die Mitbegründerin des FDGB Anna Braun-Sittarz. 1924 wurde sie für die KPD in den Aachener Stadtrat gewählt. Auf der Gründungsversammlung des FDGB Aachen erklärte sie: „Alle, die zu feige waren, dem Nazismus zu trotzen, sind schuld am Elend der Unschuldigen. Alle Nazi-Schuldigen sollen deshalb spüren, was sie angerichtet haben. Wir wollen nicht, dass unsere Nachkommen wieder in ein Völkerringen gestürzt werden! Wie wäre es uns ergangen, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten? Deshalb müssen wir alle zur Rechenschaft ziehen, die daran schuldig sind. Die Alliierten verlangen von uns, dass wir uns wieder würdig erweisen, in der Welt gleichberechtigt zu stehen. Wir sind bereit, diesen Beweis zu erbringen. Die Welt ist unser Vaterland und die Welt ist unser Volk. Aus dem Deutschland der Dichter und Denker wurde das Land der Richter und Henker. Wir wollen, dass es jetzt wieder anders wird.

Am 1. Mai 1933 setzte der ADGB-Bundesvorstand seiner opportunistischen und selbstzerstörerischen Politik die Krone auf. Im Maiaufruf wurden die Gewerkschaftsmitglieder aufgefordert, sich unter den Hakenkreuzfahnen an den Maiaufmärschen und Kundgebungen der Feinde der Arbeiterbewegung, der Nazis, zum „Tag der nationalen Arbeit“ zu beteiligen. In diesem Zusammenhang schrieb Goebbels, der Propagandaminister Hitlers, am ersten Mai 1933 in sein Tagebuch: „Morgen werden wir die Gewerkschaftshäuser besetzen. Widerstand ist nirgends zu erwarten.“

„Wir sehnten die Amerikaner herbei.“

Jean Allelein, Metall-Gewerkschafter und Kommunist, 1945 Nachfolger von Anna Braun-Sittarz im Aachener FDGB-Vorstand, sagte 1984 anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung Aachens von den Faschisten:

Wir waren Hitlergegner. Ich sage das frei heraus: Wir sehnten die Amerikaner herbei. Aber wenn man seine Heimatstadt in Trümmer geworfen sieht, ist das kein angenehmes Gefühl. Doch wenn ich das heute bedenke, muss ich sagen, tja – es musste so sein.“

Man muss sich heute nur in den KZ- und anderen Gedenkstätten umsehen, um nachzuvollziehen, welcher Art die rechten Gewerkschaftsführer des ADGB waren. Was sie mit ihrer Politik des ständigen Zurückweichens, des Verzichts, die Arbeiter zum Kampf, zum Generalstreik aufzurufen, allein in den eigenen Reihen angerichtet haben. Schon bis Ende 1933 hatten die Nazis mindestens dreitausend ihrer Opfer in den Kellern der SA-Lokale, in Polizei- und Gestapo Gefängnissen und eilig errichteten KZs ermordet. Zehntausende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mussten ins Exil fliehen. Bis zum Kriegsbeginn am 1. September 1939, dem Überfall der Faschisten auf Polen, wurden abgesehen von den vielen anderen, rd. 150.000 Gewerkschafts- und Parteimitglieder, Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen, und sonstige Freunde der Arbeiterbewegung in Konzentrationslagern, Zuchthäusern, in Gefängnissen in so genannte „Schutz-„ oder Untersuchungshaft eingekerkert. Wilhelm Leuschner, Sozialdemokrat, vor 1933 Mitglied im Vorstand des ADGB und im Widerstand gegen die Nazis aktiv gewesen, rief 1944 einem Zellennachbarn im Gefängnis zu:

„Morgen werde ich gehenkt, schafft die Einheit!“

Die Aachener Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die mit der FDGB Gründung im März 1945 dafür die Voraussetzungen für ganz Deutschland hatten schaffen wollen, bekamen bald Gegenwind von der britischen Besatzungsmacht. Die britische Militärverwaltung wollte keinen Aufbau einer zentral organisierten und gelenkten Einheitsgewerkschaft, in der unabhängig von Weltanschauung, Glauben und Parteizugehörigkeit alle Lohnabhängigen zum gemeinsamen Kampf für ihre Ziele zusammengeschlossen sind, zulassen.

„Ich kann keine Spaltungen haben.“

Einer der Mitbegründer des FDGB in Aachen, Peter Spiegelmacher, Sozialdemokrat, zur Frage der Einheit: „Ich kann keine Spaltungen haben. Die mag ich nicht, die verdaue ich nicht. Ich bin immer für die Einheit. Dafür kam mir das auch zurecht mit der Einheitspartei. Und das war ja auch, was wir da schon alles besprochen hatten, keine Parteien. Vor allen Dingen haben wir das immer besprochen, als wir in den Gefängnissen, in den Lagern saßen – mit den Kommunisten und den Christen. Da hieß es immer ‚Nie mehr lassen wir uns auseinanderteilen, wir bleiben eine Partei, eine Richtung, wir marschieren zusammen’. Und das war etwas, was ich nun gerne wollte.“

Ein entsprechender Antrag eines so genannten „Siebener-Ausschusses“ um Hans Böckler, den späteren DGB-Vorsitzenden, wurde von der ab dem 15. Juni 1945 für die Nordrhein-Provinz zuständigen britischen Militärbehörde abgelehnt. Schließlich gestattete sie bei der entsprechenden Konferenz am 7. Dezember 1945, beraten von Vertretern der britischen Gewerkschaften und Hans Gottfurcht (Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien) die Gründung von Gewerkschaften nach dem Industrieverbandsprinzip, heute als die autonomen Einzel- bzw. Industriegewerkschaften bekannt, die unabhängig voneinander für ihre Ziele, wie z. B. Arbeitszeitverkürzung u. a. kämpfen oder verzichten.

Peter Spiegelmacher, einer der o. e. Mitbegründer des FDGB in Aachen erzählte im Rückblick auf die Konferenz vom 7. Dezember 1945 von den Aachener Delegationsmitgliedern: „Wir gingen wie begossene Pudel weg.“

Die britische Militärbehörde wäre besser beraten gewesen, sich mehr an den Forderungen der deutschen Gewerkschafter nach Entmachtung des deutschen Monopolkapitals zu orientieren, anstatt die neuen Gewerkschaften zu schwächen. Mit ihrer Entscheidung schossen sich die Briten selber ins Knie. Wer davon profitierte, war der auf seine Chance lauernde deutsche Imperialismus. In den Folgejahren schwang er sich zum großen Konkurrenten u.a. des britischen Imperialismus auf.

Erst im April 1947 gab es für die Gewerkschaften in der Nordrhein-Provinz die Erlaubnis, den „Deutschen Gewerkschaftsbund“ für die britische Besatzungszone als Dachverband zu gründen.

Ihm folgte am 12. Oktober 1949 in München die Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des DGB – ebenso als Dachverband.

So, als ob das deutsche Monopolkapital nicht die Hauptverantwortung für die Errichtung der Hitler-Diktatur und damit für die Zerschlagung der Gewerkschaften getragen hätte, saß die Mehrheit der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer zu dieser Zeit bereits wieder bis zur Halskrause im Boot der Kapitalisten. Dabei verrieten sie die Gedanken und Forderungen nach Einheit der Arbeiterklasse in einer gemeinsamen Kampforganisation. Stattdessen machten sie den DGB an der Seite der imperialistischen Staaten zum Instrument antikommunistischer Hetze gegen den FDGB, die DDR und Sowjetunion. Das war kein Zufall und auch kein Fehler politisch unerfahrener Gewerkschafter, sondern ein von längerer Hand vorbereiteter Plan ehemaliger ADGB-Führer. So schrieb Fritz Tarnow 1944 – einer der ehemaligen – in einem Brief aus der Emigration: „... Es ist gewiss, dass eine der Hauptforderungen der deutschen Arbeiter, die Forderung nach Einheit sein wird, und sie werden versuchen, starke, nicht politische Verbände von Industriegewerkschaften zu schaffen, oder vielleicht sogar Gewerkschaften verlangen, die alle Arbeiter umschließen (Einheitsgewerkschaften).

Die neue Aachener Elite

Als die amerikanischen Truppen im Oktober 1944 Aachen von der Naziherrschaft befreiten, beauftragten sie deutschsprachige Offiziere mit einer Untersuchung. Hierbei sollte nach Meinungen und Ansichten in der Aachener Bevölkerung, insbesondere bei den sich neu formierenden politischen Kräften und in der Verwaltung gefragt werden. In einem im Januar 1945 erstellten Gutachten schrieben die drei mit der Befragung beauftragten Offiziere u. a. Folgendes:

In den letzten drei Monaten hat sich eine neue Elite gebildet, eine Elite, die sich aus Technikern, Rechtsanwälten, Ingenieuren, Geschäftsleuten, Fabrikanten und Geistlichen zusammensetzt. Diese Elite ist clever, entschlossen und aggressiv. Sie besetzt jeden wichtigen Posten in der Verwaltung. Ihr Kopf ist Oberbürgermeister Oppenhoff. Nahezu alle Bürgermeister und Schlüsselfunktionäre werden von ihm ausgewählt, und die meisten von ihnen denken wie er. Hinter Oppenhoff steht der Bischof von Aachen, eine mächtige Figur von eigenwilliger Gerissenheit und mit dem Programm der Kirche. Nahezu alle diese Männer kannten sich schon seit langer Zeit. Drei der Bürgermeister wohnen in einem Haus zusammen; zwei in einem anderen Haus. Oppenhoff ist, neben anderen Kriegsaufgaben, Rechtsanwalt des Bischofs und der Diözese gewesen. Seine Mitarbeiter sind Faust und Op de Hipt, beide leitende Angestellte in den Veltrup-Werken. All diese Leute haben es irgendwie geschafft, aus der Nationalsozialistischen Partei draußen zu bleiben; die meisten von ihnen standen mit den führenden Kriegsbetrieben der Stadt, Veltrup und Talbot, in Verbindung.

Man könnte ausführen, dass die meisten Vertreter der in Aachen regierenden Elite fähige Leute sind, die in ziemlich großen Unternehmen Erfahrungen gemacht haben und gebraucht werden können. Sie sind jedoch sowohl im Regieren als auch in der Politik, besonders im Sinne des Politik Machens, unerfahren. Als Individuen mögen sie ziemlich ungefährlich sein, aber als Gruppe sind sie tyrannisch, und natürlich nutzen sie ihre Position für ihre eigenen Ziele aus, um den unabhängigen Arbeiterorganisationen Daumenschrauben anzulegen - eine direkte Infragestellung der Verkündung General Eisenhowers über das Recht der deutschen Arbeiter, sich in freien Gewerkschaften zu organisieren.

Ein überraschendes Faktum an dieser neuen Aachener Elite ist ihre verhältnismäßige Jugend. Ihr Alter liegt zwischen 33 und 50. Sie repräsentieren alle die obere Mittelklasse; ihr Einkommen in den letzten zehn Jahren unter Hitler ist hoch gewesen – es reicht von 7.000 bis 200.000 Mark jährlich, mit einem Durchschnitt um die 30.000 Mark. Sie stammen aus ‚guten’ Familien. Keiner von ihnen hatte unter dem Nazi-Regime zu leiden – oder widersetzte sich ihm durch Wort oder Tat. Die Akten zeigen, dass sie unter Hitler zu Reichtum gelangten.

„... Sie haben kein Vertrauen in die Organisierung öffentlicher Wahlen, politischer Massenparteien und Gewerkschaften und beabsichtigen, sich dem zu widersetzen. Sie sehen ‚Arbeit’ und den ‚Stolz auf die Arbeit’ und einen gütigen Arbeitgeber als die Lösung des Konfliktes von Parteien und Klasseninteressen an. Sie verachten und fürchten den politisch bewussten Arbeiter. ‚Gib dem Arbeiter ein Glas Bier und einen Laib Brot, und er ist zufrieden’, sagte einer der Bürgermeister sarkastisch. Er sagte weiter, dass deutsche Arbeiter ‚komisch dächten’. Ein anderer Bürgermeister glaubt, dass Sozialdemokraten ‚undeutsch’ seien.

Saul Padover, einer der US-Offiziere beschreibt Aachen als eine „verrückte Stadt“. Dort hatte nicht der US-Kommandant das Sagen, sondern der von ihm eingesetzte Oberbürgermeister Oppenhoff. Und den größten Einfluss hatte ein Mann, der überhaupt kein politisches Amt inne hatte, der Bischof von Aachen. „Nicht die amerikanischen Eroberer bestimmten, wo es lang ging, sondern die Deutschen, die zu einer Clique von Rüstungsproduzenten gehörten. Die herrschende Ideologie war nicht von Demokratie geprägt, sondern von einem autoritären Faschismus“. Und wie es an anderer Stelle heißt: „Die Leute um Oppenhoff sind nicht demokratisch ausgerichtet. Sie bekennen sich zu einem deutlichen Widerwillen gegen die Weimarer Republik, zur Abscheu vor einer Mehrparteienregierung, zur Furcht vor dem arbeitenden Mann und zu ängstlichem Argwohn gegenüber liberalen Bewegungen. Ihre Cliquenwirtschaft schließt alle ‚Außenseiter’ aus. Sie plädieren für ein autoritäres Regime wie es Mussolini, Franco oder Pétain errichtet hatten. Das Wirtschaftsleben sollte streng hierarchisch nach dem Führerprinzip aufgebaut sein, die Arbeiter sollten sich nicht organisieren und keine Forderungen stellen dürfen.“ Gewerkschaften sollten nicht zugelassen sein. Wahlen lehnten sie ab. Oppenhoff befürchtete, „dass die Arbeiter unter den laxen Besatzern gefährliche Vorstellungen von Freiheit und Demokratie entwickelten. … Er sprach wie ein Angehöriger einer siegreichen Nation“.

Es hat Oppenhoff wenig genutzt. Trotz seiner reaktionären Ansichten war er für die Nazis ein Verräter. Am 25. März 1945 ließen sie ihn durch ein so genanntes „Werwolfkommando“ der SS, das durch die amerikanische Frontlinie nach Aachen eindrang, in seiner Wohnung kaltblütig ermorden.

Zitate aus: S.K. Padover, L. F. Gittler, P. R. Sweet: „The Political Situation in Aachen, in Daniel Lerner (ED.): Propaganda in War and Crisis. New York 1951, S. 434-456

Wir müssen dies um jeden Preis zu verhindern trachten, da es den Kommunisten die Möglichkeit geben würde, die Gewerkschaften zu beherrschen. Daher müssen wir jetzt mit den britischen und amerikanischen Stellen die geeigneten Vorkehrungen treffen, damit wir so schnell wie möglich zurückkehren können, um die Entwicklung antikommunistischer Gewerkschaften zu leiten. Wir dürfen auf die Mitarbeit der Militärbehörden rechnen können, da es ebenso in ihrem, wie in unserem Interesse liegt.“ (George S. Wheeler, die amerikanische Politik in Deutschland (1945-1950), Berlin 1958, S. 39/40)

Arbeitsgruppe „Stellung des Arbeiters
in der Gesellschaft heute“

30.Januar 1933 – warum lehnte der ADGB den Generalstreik gegen die Machtübertragung an die Hitlerfaschisten ab?

(...) der »Vorwärts« schrieb, heute Generalstreik machen, hieße die Munition der Arbeiterklasse in die leere Luft zu verschießen. Er dachte offenbar nicht daran, daß sie durch allzulange Lagerung auch unbrauchbar werden könnte. Die Gewerkschaftsführer stellten sich auf den rein formalen Standpunkt, daß die Ernennung eines Reichskanzlers nach der Verfassung in das Belieben des Reichspräsidenten gestellt sei. (...) Der Gedanke, daß es Hitler wagen könnte die Koalitionsfreiheit anzutasten oder gar die Gewerkschaften zu zertrümmern, war ihnen unvorstellbar. (...) So glaubten sie, auch eine Hitlerherrschaft zu überdauern und den Kern ihrer Organisation in bessere Zeiten hinüberretten zu können. (...)

Unter der zermürbenden Auswirkung der Weltwirtschaftskrise war ihnen der Glaube an den revolutionären Schwung des Proletariats, wie er beim Kapp-Putsch aufgeflammt war, verlorengegangen. Im täglichen Kampf gegen Lohnherabsetzungen, um Einzelheiten der Tarifverträge und des Arbeitsrechts waren sie gewöhnt, nur das Nächstliegende und jede Möglichkeit eines Ausgleichs widerstrebender Interessen zu sehen. (...) Die letzte Stunde, die der deutschen Sozialdemokratie noch einmal gegeben war, entweder das Schicksal zu wenden oder ehrenvoll unterzugehen, blieb ungenützt.

(Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik, Neuausgabe München 1979, S.373f. Hoegner war Reichstagsabgeordneter der SPD und alles andere als ein „Linker“ in der Führung der SPD.)

1 Der antifaschistische Krieg der Antihitlerkoalition gegen Nazi-Deutschland war ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet. Die Feindschaft der USA gegen den deutschen Faschismus drückte sich u.a. aus in starken antifaschistischen Tendenzen im US-Militär – und das nicht nur in den unteren Rängen. So ist auch zu erklären, dass die Arbeiter in Aachen nach der Befreiung durch die US-Armee die Möglichkeit hatten, frei über den antifaschistischen und antimilitaristischen Charakter ihrer Gewerkschaft zu entscheiden. Später änderte sich das. Die Westmächte behinderten die Entwicklung freier Gewerkschaften in dem Maß, in dem sie den früheren Bündnispartner Sowjetunion bekämpften und dem deutschen Imperialismus, der keineswegs schon vollständig vernichtet war, Starthilfe gaben.

2 Die „Deutsche Arbeitsfront“ war die Organisation des Hitlerfaschismus im Betrieb. Aufgebaut war sie nach dem Führer-Gefolgschaftsprinzip. Entsprechend der Nazi-Ideologie von der Volksgemeinschaft waren Arbeiter und Angestellte als Gefolgschaftsmitglieder – unabhängig vom unversöhnlichen Klassengegensatz – gemeinsam mit den Unternehmern als Wehrwirtschafts- oder auch nur als Wirtschaftsführer in der DAF zwangsorganisiert.

Dieser Artikel wurde auf Grundlage folgender Literatur geschrieben:

Klaus Brülls/Winfried Casteel, „Schafft die Einheit“, Aachen: ALANO 1985,

Detlef Peikert, Antifaschistische Einheit – die Lehre aus der Nazi-Barbarei, in: KAZ Nr. 264, S. 6/7, 17.03.1995

Renate Linsen von Thenen, Die deutsche Armee zog plündernd durch die alte Stadt, in: UZ 12.11.2004, S.15.

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