Die Zustände im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos sind seit Jahren bekannt: Völlige Überbelegung, katastrophale hygienische Zustände, ebenso katastrophale medizinische Versorgung, kaum Schutz vor Kälte und Nässe, Dreck und Matsch bei jedem Regen, in dem die weit über 10.000 Menschen leben müssen. Mit dem Aufkommen der Corona-Pandemie verschlimmerte sich die Lage noch, das Lager wurde zum Gefängnis. Doch erst der Brand des Flüchtlingslagers Moria brachte diese Katastrophe wieder in die Schlagzeilen der Medien, zumindest kurzzeitig. Und was tut die Bundesregierung, die doch ständig weltweit Demokratie und Menschrechte einfordert, zumindest dort, wo es ihr außenpolitisch nützlich erscheint?
Gerade mal 74.000 Menschen ist es 2020 gelungen, hier in dieses Land zu flüchten und einen Antrag auf Asyl zu stellen. Selbst die in den Koalitionsverhandlungen von der CSU im Machtkampf mit CDU und SPD durchgedrückte Obergrenze von durchschnittlich 200.000 Geflüchteten pro Jahr ist also lange noch nicht erreicht. Doch der Bundesinnenminister Seehofer (CSU) weigert sich hartnäckig, die Menschen hierher kommen zu lassen. Auch die Bereitschaft einzelner Bundesländer und etlicher Kommunen, Menschen aus dem Lager aufzunehmen, ändert nichts an der Haltung Seehofers. Statt diese Kräfte zu unterstützen, brüstet er sich im Bundestag gegenüber der gegen Flüchtlinge hetzenden AfD: „Vor ihnen steht ein Bundesinnenminister, der mehr als jeder andere für die Steuerung und Begrenzung von Migration getan hat.“ (zeit online, 16.9.2020) Sprich: ich tue doch das, was ihr auch wollt. Nur aufgrund des Drucks vieler empörter Reaktionen aus dem ganzen Land einigte sich die Bundesregierung schließlich, zusätzlich zu der bereits beschlossenen Aufnahme von 100 bis 150 unbegleiteten Jugendlichen, weitere 1.533 Menschen aus fünf verschiedenen griechischen Lagern aufzunehmen.
Noch vor zwei Jahren wollte Seehofer im deutschen Alleingang die Grenzen für Geflüchtete aus anderen EU-Staaten schließen und beschwor damit nicht nur eine Regierungskrise herauf, sondern sorgte auch innerhalb der EU für großen Ärger. Heute erklärt er, das „Problem der Migration“ könne nicht lokal gelöst werden, es brauche eine europäische Lösung. „Humanität und Ordnung“ müsse die Grundlage einer solchen Lösung sein, meint Seehofer auf einer Pressekonferenz am 23.9.2020 (livestream auf Spiegel.de), auf der er zu dem nun von der EU-Kommission vorgelegten Vorschlag einer EU-Asylpolitik Stellung bezieht. Er ist zufrieden. Der Rechtsruck in Deutschland, vorangetrieben vor allem von Kräften wie Seehofer und seiner CSU, zeigt auch in der deutsch dominierten EU seine Wirkung. Und so decken sich die europäischen Vorschläge weitgehend mit dem, was sich Seehofer unter „Humanität und Ordnung“ vorstellt: Noch mehr Abschottung der EU gegenüber den vor Krieg, Verfolgung und Elend Flüchtenden; weiterhin gefängnisartige Lager an den Außengrenzen der EU, in denen im Schnellverfahren geprüft werden soll, ob jemand überhaupt Aussicht auf ein Recht auf Asyl und Schutz hat; noch mehr Abschiebungen. Zweidrittel der Menschen, so Seehofer auf eben jener Pressekonferenz, könnten dann gleich wieder abgewiesen werden. Die Wenigen, die bleiben dürfen, müssen weiterhin in den EU-Ländern, in denen sie angekommen sind – also wie bisher vor allem die Mittelmeerländer – ihren Antrag auf Asyl stellen. Nur wenn diese Staaten besonders unter Druck stehen, sollen die Geflüchteten nach einem festgelegten Mechanismus auf die anderen EU-Staaten verteilt werden. Wer keine Geflüchteten aufnehmen will, wie der langjährige politische Freund der CSU und Regierungschef in Ungarn, Victor Orban, soll seine „Solidarität“ durch Unterstützung bei der Organisation von Abschiebungen zeigen (siehe z.B. SZ vom 9.10.202).
Nur wenige Flüchtlinge werden danach also noch überhaupt in Deutschland, dem reichsten und mächtigsten Staat der EU, Aufnahme finden. Der Rest wird mit zunehmender Rechtlosigkeit, Gewalt und Barbarei daran gehindert werden. Das versteht so jemand wie Seehofer dann unter Humanität. Es gibt viele, auch Kolleginnen und Kollegen, die laut oder auch nur klammheimlich Seehofer zustimmen. Man könne doch nicht jeden aufnehmen, es gäbe hier schon genug Probleme, Zigtausende würden entlassen, man finde keine bezahlbaren Wohnungen mehr usw.. Jeder davon muss sich fragen, ob er ernsthaft glaubt, mit solch einer Politik eine Zukunft zu haben. Oder ob diese doch nur das Ziel hat, diejenigen, die nichts besitzen, zu spalten. Menschen, die nichts anderes wollen, als (über)leben zu können, zur Bedrohung zu erklären und uns so abzulenken von denjenigen, die uns auspressen, um den Profit zu vermehren und uns entlassen, wenn unsere Arbeit keinen Profit mehr verspricht. Die uns hohe Mieten abpressen, egal, ob wir sie bezahlen können oder nicht. Die verlangen, dass ihnen die ganze Welt offensteht für ihre Waren, ihr Kapital, noch billigere Arbeitskräfte und die benötigten Rohstoffe. Die notfalls Kriege führen und dazu aufrüsten lassen, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Uns also abzulenken von denjenigen, die verantwortlich sind dafür, dass immer mehr Menschen keine Lebensgrundlagen mehr haben.
gr
Artikel aus „Auf Draht“ vom 20.10.2020, einer Zeitung, die vor Münchner Betrieben verteilt wird. Herausgegeben von DKP München und Gruppe KAZ München.
2018: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter auf einer Demo gegen Seehofers Abschottungspolitik.