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Für Dialektik in Organisationsfragen

Der EU-Wiederaufbaufonds und das Dilemma des deutschen Imperialismus

Es ist gerade einmal ein Jahrzehnt her, dass die EU bzw. die Europäische Währungsunion das erste Mal vor der Zerreißprobe standen. In Folge der fast weltweiten heftigen Überproduktionskrise 2008, verschleiernd genannt Finanzkrise, den Rettungsaktionen der Regierungen für Banken und Konzerne, türmten sich die Staatsschulden auf. Die Krise setzte sich fort und wurde nun Schulden- oder kurz darauf Eurokrise genannt. Staaten wie Griechenland mussten immer mehr Zinsen für ihre Staatsanleihen bezahlen, die Rede vom Staatsbankrott machte die Runde. Die politischen Vertreter des deutschen Imperialismus, kaum dass sie dachten mit Bankenrettung, Schrottprämien und ihren auf den Rücken der Arbeiterklasse durchgesetzten Konkurrenzvorteilen gestärkt aus der weltweiten Krise hervorgehen zu können, sahen sich nun damit konfrontiert, nicht nur die Profite der Banken und ihrer Anleger vor zahlungsunfähigen Eurostaaten retten zu müssen, sondern die Währung überhaupt und damit die Währungsunion. Der deutsche Imperialismus, schon damals unangefochtener Profiteur der gemeinsamen Währung, stand vor einem Dilemma. EU wie Euro sollten weiterhin dazu dienen, nicht nur Absatzmärkte ohne Hindernisse für Waren und überschüssiges Kapital zu gewährleisten, sondern dem Ziel eines Europas unter deutscher Herrschaft näher zu kommen, um vor allem dem US-Imperialismus Paroli bieten zu können. Das aber heißt, die eigene Stärke ökonomisch und politisch weiter auszubauen. Für, nicht zuletzt durch permanente Handelsdefizite zugunsten des deutschen Staates bzw. seiner Monopolbourgeoisie, in Schieflage geratene Euro-Staaten zu zahlen oder gar für deren Schulden zu haften, ist dabei nicht vorgesehen. Genau dies, also Geld in die Hand zu nehmen, forderten aber der kapitalistischen Konkurrenz entsprechend die geschäftsführenden Ausschüsse vor allem des französischen und italienischen Imperialismus, unterstützt von Vertretern des US-Imperialismus. Es begann das Gezerre um die „Rettung“ Griechenlands.

„Deutsche Haushaltsdisziplin vollendet, was die Wehrmacht vor 70 Jahren nicht geschafft hat“ (Weekly Standard 12.12.2011)

Die Kämpfe um Eurobonds, also gemeinsame Anleihen der Eurostaaten, um die Zinsen aller EU-Staaten zu stabilisieren, um Rettungsschirme, Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, zogen sich hin. Immer mehr EU-Staaten gerieten unter Druck, die Zinsen für ihre Staatsanleihen stiegen. Die Bundesregierung, schon damals mit der Kanzlerin Merkel, blieb hart. Nein zu Eurobonds, Rettungsschirme nur auf Kreditbasis, zwar zu günstigeren Konditionen, als auf dem Markt, doch erhöhten sie trotzdem die Schuldenberge der betroffenen Staaten – und die Zinseinnahmen der Bundesregierung. Und: für jeden Cent Kredit wurden Kürzungen verlangt, um die Haushalte der Länder nach dem Vorbilde Deutschlands „zu stabilisieren“. So konnte die deutsche Regierung schließlich auch den Fiskalpakt durchpressen, der weit in die Souveränität der Staaten über ihren Staatshaushalt eingreift. Inhalt dieses Pakts sind u.a. eine Schuldenbremse, also so gut wie keine Neuaufnahme von Schulden mehr, die in den nationalen Gesetzgebungen verankert werden sollte; Bewilligung des Haushalts aller Staaten, gegen die ein Defizitverfahren läuft, durch EU-Kommission und EU-Rat; Möglichkeit eines Zwangsgeldes durch den Europäischen Gerichtshof, wenn ein Staat gegen den Fiskalpakt verstößt. Selbstverständlich wird in diesem Vertrag auch darauf hingewiesen, auf welche Weise die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Staaten verbessert werden soll, womit dann über die Haushaltsplanung hinaus auch Druck auf das Steuer-, Sozial,- und Arbeitsrecht der Staaten ausgeübt wird. Kürzungen der Renten und der Gesundheitsversorgung, Minijobs, Leiharbeit, das Ganze für die deutsche Bourgeoisie doch so segensreiche Auspressungsprogramm der Arbeiterklasse sollte als Vorbild für ganz Europa gelten. Und: Wer Kredite aus dem eingerichteten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erhalten will, muss diesen Fiskalpakt unterzeichnen. Der deutsche Imperialismus konnte sich also durchsetzen mit seinem Ziel, die Souveränität der EU-Staaten weiter außer Kraft zu setzen, sie „zu disziplinieren“ wie es z.B. der damalige Linde-Vorstandsvorsitzende Reitzle gefordert und dabei sogar mit dem Austritt Deutschlands aus der Währungsunion gedroht hatte.[1] Dieser Vertrag bedeutete eine Änderung der Regelungen gegenüber dem Vertrag von Lissabon, der also entsprechend geändert werden hätte müssen. Doch zwei Staaten waren dagegen und schlossen sich diesen Regelungen nicht an: Großbritannien und die Tschechische Republik. Also wurde er einfach als gesonderter Pakt von 25 EU-Staaten beschlossen und trat zum 1. Januar 2013 in Kraft. Es ist kein Zufall, dass in eben jenem Januar 2013 der britische Premier Cameron ankündigte, die britischen Bürger in einem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen zu wollen. Die EU entwickle sich in eine Richtung, die mit den britischen Vorstellungen und den ursprünglichen Zielen nichts mehr zu tun hätte, so die Begründung. Der Drang des deutschen Imperialismus nach Beherrschung Europas birgt in sich die Sprengung des für ihn doch so profitablen Bündnisses – das war damals und ist heute nicht zu übersehen. Aus diesem Widerspruch, kommen die herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter nicht heraus.

Zehn Jahre später

Keiner dieser Widersprüche, die sich damals auftaten, ist gelöst und kann auch unter den herrschenden Bedingungen nicht gelöst werden, weswegen sie bei jeder Zuspitzung wieder aufbrechen. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Staaten der EU hat sich verschärft zugunsten einer weiteren Stärkung des deutschen Imperialismus. Die Schulden vieler Staaten sind nicht geringer, sondern im Vergleich zu der Situation vor Beginn dieser sog. Schuldenkrise weitaus höher. Hatte z.B. Griechenland 2009 Schulden in Höhe von 126% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so betrugen sie 2019, also vor dem Auftauchen der Pandemie und den Folgen ihrer Bekämpfung 176% und das auf dem Hintergrund einer beispiellosen Verarmung des Staates.[2] Die italienischen Staatsschulden entwickelten sich im gleichen Zeitraum von 116% des BIP zu 134%. In Frankreich fielen sie geringfügig auf hohem Niveau (100% zu 98%). Deutschland allerdings konnte sie von 73% auf knappe 60% (59,8) senken. Ursache dafür war unter anderem, dass der Anteil am Bundeshaushalt für den Schuldendienst aufgrund der äußerst günstigen bis hin zu Negativzinsen für deutsche Staatsanleihen schrumpfte. Eine andere der aggressive Export des deutschen Kapitals, ermöglicht durch die vergleichsweise höhere Auspressung der Arbeiterklasse. Nicht zu vergessen die altbekannte Sparsamkeit des deutschen Imperialismus, wenn es um öffentliche Investitionen geht, seien es Schulgebäude und Lehrpersonal, Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, Verbesserung des Gesundheitswesens usw. Bei aller Unterschiedlichkeit der Situation, herrscht immer noch eine Haltung, wie sie in den Worten des Historikers Gerhard Ritter bei einer Durchhalterede in der Endphase des 2. Weltkrieges drastisch zum Ausdruck kam: „Wir Deutsche haben (...) gelernt (...), dass für ein Volk, das eine große geschichtliche Rolle spielen will, zunächst und vor allem eins Not tut: hart arbeiten, sich großhungern und gehorchen.“[3] Dabei verweist man dann auch noch auf die inzwischen im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, schließlich eine Verpflichtung aus EU-Verträgen, die man selbst in der EU gegen alle Widerstände durchgesetzt hat.

Politisch spiegelten sich diese fortbestehenden und sich verschärfenden Widersprüche u.a. im dann tatsächlich vollzogenen Austritt Großbritanniens aus der EU (Januar 2020) wider, im Anwachsen EU-kritischer Haltungen in allen Ländern, die sich oftmals faschistische Kräfte zu Nutze machen können. Die Gründung der AfD in Deutschland 2013 ist ebenfalls Ausdruck dieser Widersprüche, nur eben deren anderer Seite. Noch vertritt sie vor allem Teile des mittleren, nicht monopolistischen Kapitals, organisiert z.B. im Verband der Familienunternehmer, denen die Tatsache, dass Deutschland überhaupt in Verträge der EU und EWU eingebunden und in diesem Rahmen handeln und zumindest auf der Oberfläche auch bezahlen muss, schon zu viel an Verlust deutscher Souveränität und Herrschaft ist. Doch bietet sie sich damit auch der Monopolbourgeoisie oder Teilen von ihr als politische Alternative an, sollten sie ihre Interessen in dem Bündnis EU nicht mehr ausreichend vertreten sehen. „Berlin droht, wie andere nationale Hauptstädte auch, immer mehr zu einer Art Filialbetrieb und Befehlsempfängerin der Zentrale Brüssel zu werden.[4], so der AfD-Politiker Meuthen zu seiner Entscheidung, nicht für den Bundestag zu kandidieren, um nur ein Beispiel dieser Strömung und ihrer Demagogie zu nennen.

„Der hässliche Deutsche“ ist zurück

Zu all dem traf nun ab Februar dieses Jahres die Pandemie auch Europa. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß der Infektionen und der darauf folgenden staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie – sie traf alle Länder. Italien jedoch war das erste Land, in denen die Zahlen der Infizierten hochschnellten, die Krankenhäuser sich füllten und das nicht zuletzt durch Fiskalpakt-Auflagen herunter gesparte Gesundheitssystem sich als völlig überfordert erwies. Fehlende Intensivbetten und rasant steigende Todeszahlen waren die Folge. Der dort auch durch die Arbeiter[5] erkämpfte weitgehende Lockdown brachte das Wirtschaftsleben fast völlig zum Erliegen. Und es zeigte sich in aller Deutlichkeit, was diese EU ist: kein EU-Imperialismus mit einem Staat, der im Interesse seiner herrschenden Klasse die Pandemie EU-weit bekämpft, schon gar keine solidarische Staatengemeinschaft, sondern ein sehr weitgehendes und kompliziertes Bündnis imperialistischer Konkurrenten und mehr oder weniger von diesen abhängiger kapitalistischer Staaten. Am offensichtlichsten wurde dies zunächst vor allem für die mit dem Virus kämpfende italienische Bevölkerung durch die Verweigerung einfachster Unterstützung durch den reichen Nachbarn: statt schneller Hilfe – Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung und Sperrung der Grenzen ohne jede Absprache. Die russischen und chinesischen Transporter, die in Italien mit notwendigem medizinischem Bedarf landeten (was ihnen bis heute in der Presse als scheinheilige Propagandaaktionen vorgeworfen wird, während jede deutsche Hilfsaktion selbstverständlich reine Nächstenliebe ist) waren dann allerdings schon ein erster Hinweis für die deutsche Bourgeoisie und ihre Regierung, dass diese hartleibige Haltung nach hinten los gehen kann. Schließlich ringt man doch auf allen Ebenen und mit viel Hetze darum, chinesischen oder russischen Einfluss innerhalb Europas zurück zu drängen. Nun wurden zumindest mal einzelne, schwer erkrankte Menschen in deutsche Krankenhäuser aufgenommen. Zunächst nicht so offensichtlich aber mit erheblichen Auswirkungen war der Kampf innerhalb der EU-Gremien und zwischen den Vertretern der Staaten um europäische finanzielle Maßnahmen zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie. Jeder einzelne EU-Staat bzw. deren Regierung ergriff zunächst Maßnahmen, um die eigene Bourgeoisie zu retten, beschloss Hilfspakete zur Unterstützung der Konzerne, in gewissem, in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlichem Ausmaß, auch der massenhaft betroffenen Kleinunternehmen und Selbstständigen. Nur hatten und haben diese Staaten dazu eben sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Während die Bundesregierung, der geschäftsführende Ausschuss der deutschen Monopolbourgeoisie, keine Probleme hat ein über 1,1 Billionen Euro schweres Rettungspaket zu beschließen, das weitaus höchste in der EU und eins der höchsten weltweit, stiegen in anderen EU-Ländern bereits wieder die Zinsen für die Staatsanleihen. Es wurden zwar schnell Regelungen aus den EU-Verträgen und dem Fiskalpakt, wie Schuldenbremse und Verbot staatlicher Subventionierung von Banken und Konzernen, ausgesetzt, schließlich konnte auch der Urheber dieser Regelung sie nicht mehr einhalten. Doch in welcher Form und Höhe die Staaten auf EU-Ebene direkt finanziell unterstützt werden sollten, war heiß umstritten. Ende März legte dann die Europäische Zentralbank ein weiteres Anleihenkaufprogramm für Staats- und Unternehmensanleihen in Höhe von zunächst 750 Mrd. Euro auf, im Juni dann aufgestockt auf 1.350 Mrd. Euro, um die „Märkte zu beruhigen“ wie es so schön heißt, und so die Zinsen für die Anleihen zu senken. Erst im April dann einigten sich die Staatschefs auf einen Fonds der EU-Kommission von insgesamt 540 Mrd. Euro, der in Form von günstigen Krediten zur Unterstützung von Betrieben und zur Abfederung von Erwerbslosen (Kurzarbeitergeld u.ä.) abgerufen werden kann. Nicht einigen konnte man sich jedoch auf die Forderung der französischen und italienischen Staatschefs Macron und Conte, unterstützt von den Regierungen Spaniens, Portugals, Griechenlands, Sloweniens, Belgiens, Luxemburgs und Irlands, gemeinschaftliche Anleihen, nun Corona-Bonds genannt, aufzulegen. Die Bundesregierung, unterstützt vor allem von den Niederlanden und Österreich, weigerte sich hartnäckig, die Verhandlungen zogen sich hin. Man verwies von deutscher Seite auf die Möglichkeit von Darlehen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Doch diese Darlehen fanden keine Abnehmer. Der italienische Ministerpräsident Conte lehnte sie vehement mit den Worten ab: „Wir haben nicht vergessen, dass die Griechen gezwungen worden sind, inakzeptable Opfer zu bringen, um Kredite zu erhalten.“[6] Den Zusagen aus Brüssel, die knechtenden Sparprogramme, die mit der Inanspruchnahme des ESM verbunden sind, auszusetzen und nur mehr zur Vorgabe zu machen, dass sie ausschließlich für Gesundheitskosten ausgegeben werden, traut man offensichtlich nicht. Macron warnt in der Financial Times: „Jetzt ist der Moment der Wahrheit, in dem es darum geht, ob die Europäische Union ein politisches Projekt ist oder lediglich ein Markt. (...) Wir brauchen Finanztransfers und Solidarität, damit Europa zusammenhält“. Er greift Deutschland und die Niederlande direkt an: “Sie sind für Europa, wenn es darum geht, die Waren zu exportieren, die sie herstellen. Sie sind für Europa, wenn es darum geht, billige Arbeitskräfte zu bekommen. Aber sie sind nicht für Europa, wenn es darum geht, Schulden zu vergemeinschaften. Das kann nicht sein.“[7] Finanzexperten warnten vor einer erneuten Bankenkrise in der Eurozone[8] und in Italien tauchte wieder die Rede von den „hässlichen Deutschen“ auf, wie deutsche Medien meldeten.

„Wenn wir zögern wie in der vergangenen Krise, bricht der Euro auseinander – und wahrscheinlich auch die EU“

Auch in Deutschland brodelte die Auseinandersetzung. Die Situation ist anders, als vor zehn Jahren. Hatte damals die deutsche Wirtschaft den Talboden der Krise bereits überwunden, so zeichnete sich jetzt seit über einem Jahr bereits die nächste Überproduktionskrise ab, völlig unabhängig von der Pandemie.[9] International haben sich die Widersprüche verschärft, zwischen dem US-Imperialismus und dem deutschen Imperialismus bzw. der EU, zwischen den imperialistischen Staaten und Russland und der Volksrepublik China, das durch seine großen wirtschaftlichen Erfolge in diesem Jahrzehnt aus Sicht der Imperialisten zu einem gefährlichen Konkurrenten herangewachsen ist, aber auch, vor allem was das zu einem großen Teil für den Export produzierende deutsche Kapital betrifft, zu einem beachtlichen Absatzmarkt für Waren und dem überschüssigen Kapital geworden ist. Strafzölle und Androhung von Strafzöllen, Sanktionen und Androhungen von Sanktionen waren und sind ein Ausdruck dieses verschärften Kampfes um die Aufteilung der Welt und betreffen, neben der EU, die größten Absatzmärkte des deutschen Imperialismus. Und nun stürzt diese EU, in die deutsches Kapital immerhin knapp 60 Prozent seiner Waren exportiert, durch die Eindämmungsmaßnahmen der Pandemie in eine Krise, die noch tiefer zu werden droht, als es die Krise von 2008 war. Und so mehrten sich im Verlauf dieser Auseinandersetzung auch hierzulande die Stimmen im Kapital, in den Wirtschaftsinstituten und Beratergremien der Politik, die davor warnten, den Bogen zu überspannen und dazu rieten, Geld in die Hand zu nehmen und notfalls sogar der Einführung von Corona-Bonds zuzustimmen. In einem Artikel der SZ vom 3.4.2020 wird andeutungsweise deutlich, welcher Kampf da im Hintergrund geführt wurde. So sprach sich danach Michael Hüther, Direktor des kapitalnahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), nicht nur schnell für die Aufhebung der Schuldenbremse und einen schuldenfinanzierten Krisenfonds in Deutschland aus, sondern auch für europaweite Corona-Anleihen. „Die Wirtschaft steht in Folge der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie weltweit am Abgrund, selbst für das wirtschaftsstarke Deutschland erwarten die Forschungsinstitute einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um mindestens fünf, im schlimmsten Fall um 20 Prozent.“[10] Der Dachverband der deutschen Industrie, BDI, stehe hinter Hüther, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft sei allerdings strikt dagegen. „Die EU ist eine Solidargemeinschaft und keine Haftungsunion. ... Die Eurozone darf keine Transferunion werden“, so der Hauptgeschäftsführer Brossardt. Die Bewältigung der Corona Krise sei natürlich eine gemeinsame Aufgabe, Deutschland helfe mit Material und nehme Patienten auf, so Brossardt weiter. „Das ist gelebte Solidarität.“[11] Auch der Verband der Familienunternehmer sei empört über Hüthers Vorschläge, seine Ideen seien „vollständig destruktiv“. Waigel, CSU, Finanzminister unter Kohl und damals zuständig für die Verhandlungen der Bedingungen für die Einführung der Gemeinschaftswährung, hält „die Zeit für Eurobonds noch nicht gekommen.“ Gemeinschaftliche Anleihen setzten neben gemeinsamer Haftung auch gemeinsame Kontrolle der Haushalte voraus. „Dazu habe ich nichts gehört, dass die Staaten dazu bereit sind.“[12] Eurobonds also erst dann, wenn der deutsche Imperialismus auch die Haushalte der Staaten unter Kontrolle hat. Dagegen standen die Stimmen, die das ganze europäische Projekt des deutschen Imperialismus in Gefahr sahen, wenn nicht endlich gehandelt wird. „Wenn wir zögern wie in der vergangenen Krise, bricht der Euro auseinander – und wahrscheinlich auch die EU“, so der Wirtschaftsweise Achim Truger in einem Interview mit der SZ.[13]

Wiederaufbaufonds statt Corona-Bonds

Letztlich setzten sich angesichts der Zuspitzung der Auseinandersetzung innerhalb der EU und der von Monat zu Monat in zweistelligen Prozentzahlen abstürzenden Exportzahlen diejenigen Kräfte durch, die nach einem Kompromiss suchten. Äußerst nützlich war dabei, dass die Front der Corona-Bonds fordernden Staaten auseinander brach. So ließ z.B. der spanische Premier Sanchez die Forderung nach gemeinsamen Anleihen fallen und schlug, darauf bedacht, die Deutschen nicht allzu sehr zu „verärgern“[14], einen „Wiederaufbaufonds“ in Höhe von rund 1,5 Billionen Euro vor, für den die EU-Kommission Schulden aufnehmen solle. Auf ein solches Konstrukt einigten sich dann schließlich im Mai Macron und Merkel, allerdings erst, nachdem die sparsame deutsche Regierung den europäischen Wiederaufbaufonds um Zweidrittel auf 500 Mrd. herunter gepresst hatte. Diese sollten als nicht rückzahlbare Zuschüsse ausgezahlt werden. Die deutsche EU-Kommissionpräsidentin von der Leyen schlug dann noch zusätzliche 250 Mrd. Euro vor, zu vergeben als Kredite. Das Geld dafür soll aus Anleihen der EU-Kommission kommen. Auch das sind letztendlich gemeinsame Anleihen und in dieser Größenordnung neu und nicht in den EU-Verträgen vorgesehen. Doch anders als bei Euro- oder Corona-Bonds haften die Mitgliedsstaaten entsprechend ihres Anteils am EU-Haushalt für diese Schulden und nicht alle für alle, sollte ein Staat zahlungsunfähig werden. Zum anderen behält der deutsche Imperialismus seinen Vorteil, wesentlich niedrigere Zinsen für seine Anleihen bezahlen zu müssen – oder gar Zinsen dafür einzunehmen – als andere EU-Staaten. Corona-Bonds mit gleichen Zinsen für alle wären dagegen ein, wenn auch sehr kleiner Riegel, die seit Jahren von allen möglichen Kräften vor allem aus dem Lager der imperialistischen Konkurrenten angemahnte Ungleichheit innerhalb der EU schon alleine über den Zinsendienst nicht immer größer werden zu lassen. Doch auch diesen Vorteil wollte Merkel nicht aus der Hand geben, da stimmte man lieber nicht rückzahlbaren Zuschüssen zu.

Diese Zuschüsse waren denn auch einer der am heftigsten umkämpften Punkte auf dem EU-Gipfel im Juli, auf dem über diesen Wiederaufbaufonds, verknüpft mit dem EU-Haushaltvorschlag für die Jahre 2021 bis 2027 in Höhe von über 1,1, Bill. Euro, beschlossen werden sollte. Bundeskanzlerin Merkel konnte sich dabei als großzügige Verteidigerin der Zuschüsse zeigen, waren es doch vor allem der österreichische Kanzler Kurz, eng an Deutschland und vor allem an Bayern angebunden, und der niederländische Ministerpräsident Rutte, die die Zuschüsse zugunsten von Krediten herunterhandelten, unterstützt von Dänemark und Schweden. So waren es am Schluss dieses tagelangen Feilschens nur mehr 390 Mrd. Euro für Zuschüsse und 360 Mrd. für Kredite. Dafür konnten Österreich und die Niederlande ihre Rabatte auf ihren Anteil am EU-Haushalt kräftig steigern und ganz nebenbei auch die Kanzlerin Merkel den deutschen EU-Rabatt[15] verteidigen.

Selbstverständlich wurde auch beschlossen, diese Zuschüsse nicht bedingungslos auszuzahlen, worauf in Deutschland schon im Vorfeld des Gipfels gedrungen wurde. So forderte Wolfgang Schäuble in einem Artikel in der FAZ Anfang Juli „eine offene Debatte darüber, für welche gemeinschaftlichen Projekte die enormen Finanzmittel in den Mitgliedsstaaten verwendet werden sollen und wie eine effiziente Mittelverwendung mit strengen Richtlinien sicherzustellen ist.“[16] Entsprechend soll ein großer Teil der Gelder für Klimaschutz und Digitalisierung verwendet werden, Bereiche also, für die Monopole wie Siemens oder SAP durchaus so einige Produkte oder Dienstleistungen anbieten können. Die Staaten sollen dazu der EU-Kommission entsprechende Reformpläne vorlegen, die zusätzlich vom EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden müssen. Noch allerdings fließt kein Cent. Das ganze Paket muss noch vom europäischen Parlament und dann von den nationalen Parlamenten beschlossen werden.

Dem mehr oder weniger offen erklärten Ziel des deutschen Imperialismus, auch aus dieser Krise gestärkt hervorzugehen, wird dieser Wiederaufbaufonds auf jeden Fall nicht im Wege stehen.

Gretl Aden

1 Siehe dazu KAZ 339 vom Juni 2012 „Was es heißt, wenn die Welt wieder einmal an deutschem Wesen genesen soll“.

2 Das Bruttoinlandsprodukt Griechenlands ist in dem Zeitraum zwischen 2009 und 2016 von 330 Mrd. Dollar auf 195 Mrd. Dollar gefallen und beträgt 2019 immer noch nur 209 Mrd. Dollar.

3 Aus „Schwarzbuch Kapitalismus“ S. 122, zit. nach Tomasz Konicz „Das großgehungerte Deutschland“ 25.3.2013, abrufbar unter: www.heise.de/tp/features/Das-grossgehungerte-Deutschland-3503667.html.

4 SZ, 1.10.2020 „Lieber Brüssel als Berlin“.

5 So zitiert die jW vom 28.9.2020 aus dem Buch von Peter Mertens, Vorsitzender der Partei der Arbeit Belgiens, „Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise die kommt“ die italienische Metallarbeiterin Francesca Re David, die auf der 1.Mai-Feier der Partei der Arbeit berichtet: „Die Metallarbeiter waren die ersten, die es beschlossen haben: Stopp mit der Produktion unter unsicheren Umständen. Die verbindlichen Maßnahmen gegen Corona außerhalb der Fabrik müssen auch in der Fabrik gelten. Das heißt: mindestens anderthalb Meter Abstand garantieren und für jeden Arbeiter ausreichend Schutzmaterial vorhalten. Wir haben für unsere Sicherheit gestreikt. Zuerst lokal, bei Fiat zum Beispiel. Danach national. Bis die Industrie nachgegeben hat und ein Protokoll unterzeichnete. Erst dann hat die Regierung eingegriffen. Sie hat letztlich beschlossen, alle nicht essentiellen Betriebe stillzulegen. Das alles haben wir selbst erzwingen müssen.“

6 Focus.de 19.4.2020 „Warum Italien trotz fürchterlicher Corona-Situation die EU-Hilfsgelder zurückweist“, zit. nach german-foreign-policy.com „Die Angst vor dem Absturz“.

7 Zit. nach SZ 18./19.4.2020 „Europas Moment der Wahrheit“.

8 www.german-foreign-policy.com, „Wankende Banken“.

9 siehe dazu KAZ 372 „Das Virus heißt Corona, die Krise Imperialismus“.

10 SZ 3.4.2020 „Nicht erst die Scherben aufkehren“.

11 Ebd.

12 SZ 8.4.2020 „Beistand ja, nur wie?“

13 SZ 30.4.2020 „Die Krise ist nicht der Moment der Erbsenzählerei“.

14 Siehe dazu www.german-foreign-policy.com „Die Angst vor dem Absturz“.

15 Die Mitgliedsstaaten der EU zahlen entsprechend des Anteils ihres BIP an der Summe der Bruttoinlandsprodukte aller EU Staaten in den Haushalt der EU ein. Staaten, die mehr einzahlen, als sie in Form von Fördergeldern z.B. für die Landwirtschaft wieder aus dem EU-Haushalt erhalten, wie eben z.B. Österreich oder Deutschland, sog. Nettozahler, konnten einen Rabatt durchsetzen, d.h. sie zahlen weniger ein, als sie müssten.

16 Zit. nach SZ 7.7.2020 „Schäubles Botschaften an die Kanzlerin“.

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