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Für Dialektik in Organisationsfragen

EU-Recht zu deutschem Unrecht verbogen

Bundesarbeitsgericht: Deutsche Leiharbeitstarife verstoßen angeblich nicht gegen EU-Recht

Sind Leiharbeitstarifverträge rechtsungültig – und damit weg? Das war unsere Frage und teilweise unsere Annahme im Bericht in der KAZ 382, S. 22-24. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15. Dezember 2022 war davon auszugehen. Damit hat der EuGH dem Bundesarbeitsgericht auf seine „Vorabentscheidungsanfrage“ – sozusagen als Warnung – bereits im Dezember 2022 u. a. mitgeteilt, was im Fall von Rechtsstreitigkeiten über Leiharbeitstarife seine Aufgabe ist: „Trotz des Beurteilungsspielraums, über den die Sozialpartner bei der Aushandlung und dem Abschluss von Tarifverträgen verfügen, ist das nationale Gericht verpflichtet, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die Vereinbarkeit von Tarifverträgen mit den sich aus Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ergebenden Anforderungen sicherzustellen.“

Mit seinem Urteil vom 31. Mai 2023 (5 AZR 143/19) ist es dem höchsten „nationalen Arbeitsgericht“, dem BAG, wohl in erster Linie darum gegangen, die Vereinbarkeit der Leiharbeitstarife mit den Kapitalinteressen zu sichern. Es hat alles in seiner „Zuständigkeit Liegende“ getan, um vor allem den Autokapitalisten wie VW, Daimler, Ford, Opel usw. sowie anderen Monopolen und Ausbeutern, die Leiharbeitstarifverträge und das danach mögliche Lohndumping zu garantieren. Das bleibt ihnen damit als Vorteil gegenüber der europäischen und internationalen Konkurrenz erhalten. Dafür hat sich der Fünfte BAG-Senat etwas einfallen lassen, worauf der Name von der „Rechtsverdreherei“, der landläufig der Juristerei verpasst wird, zutrifft. Hierbei können sich Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter den sogenannten „Gesamtschutz“ in die Haare schmieren. Zur Erinnerung und zum besseren Verständnis der Fakten: Der „Gesamtschutz“ gilt als Teil der EU-Leiharbeitsrichtlinie für den Fall, dass die Tarifvertragsparteien über eine Öffnungsklausel in einem Tarifvertrag das vorgeschriebene Equal Pay unterlaufen und aberkennen. Nach dem EuGH-Urteil vom 15. Dezember 2022 ist hierbei der Gesamtschutz für die dann vom Lohndumping Betroffenen nur gewährleistet, „wenn ihnen im Gegenzug Vorteile gewährt werden, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen sollen ...“

Am praktischen Beispiel des dem BAG-Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreits sieht das so aus: Eine bei ver.di organisierte Kollegin klagt mit Unterstützung vom DGB-Rechtschutz auf Equal Pay (Bericht KAZ 381, S. 5/6). Sie war von Januar bis April 2017 für 9,23 € Stundenlohn im Verhältnis zu 13,68 € der Stammbelegschaft als Leiharbeiterin im Einzelhandel beschäftigt. Ein Ausgleich für die „Ungleichbehandlung“ wurde nicht gewährt und sieht der Tarifvertrag auch nicht vor. Es geht um den Differenzbetrag von 4,41 € in der Stunde und für die Beschäftigungszeit um eine Gesamtsumme von 1.296,72 Euro brutto. In der Pressemitteilung vom 31.05.2023 erklärt das BAG der Kollegin und der Öffentlichkeit u. a. dazu: „Die Vorinstanzen (Arbeitsgericht AG und Landesarbeitsgericht LAG Nürnberg, d. Verf.) haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichtes erfolglos. (...) Nach Fortsetzung der Revisionsverhandlung hat der Senat heute die Revision der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt, also auf ein Arbeitsentgelt, wie es vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhalten.

Aufgrund des wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Leiharbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di war die Beklagte nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG aF nur verpflichtet, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Dieses Tarifwerk genügt, jedenfalls im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer, den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Leiharbeits-RL.“

Im Klartext von „zusammengespieltem Tarifwerk“ und „Gesetz“ und in Euro ausgedrückt wird der Klägerin damit gesagt: Du hattest 2017 keinen Anspruch auf 13,68 € Stundenlohn wie die Stammbelegschaft. Deine Klage ist unbegründet, weil der Entleiher (im Betrieb „Sklavenhalter“) dir den Stundenlohn von 9,23 € (jetzt mindestens 12 Euro oder mehr) während der „verleihfreien Zeit“ weiterzahlen muss. Dein Anspruch aus der genannten EU-RL ist damit erfüllt.

Dieses Urteil ist ebenso unverständlich wie unglaublich. Es hat selbst dem Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler von der Uni Bremen etwas die Sprache verschlagen. Nachstehend ein kurzer Auszug aus einem Kommentar für LabourNet vom 2. Juni 2023:

„Irgendwie schien man im falschen Film zu sein, als die Tagesschau berichtete: ,Leiharbeiter dürfen schlechter als Stammbeschäftigte bezahlt werden.’ (...) Nicht nur wir von LabourNet, sondern auch alle Journalisten, mit denen ich in den letzten Tagen sprach, fanden das Urteil befremdlich. Wer die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) kannte, musste ein anderes Resultat erwarten. Stattdessen hat sich das BAG über zentrale Aussagen des EuGH hinweggesetzt. Für alle Nachteile, die einem Leiharbeiter widerfahren, soll es ein genügender Ausgleich sein, wenn nach dem Gesetz, die verleihfreie Zeit bezahlt wird, also der Zeitraum, für den sich kein Entleiher findet. Die Entscheidung des EuGH sieht das anders: Sie verlangt, dass der Tarifvertrag selbst die Kompensation vorsieht. Die Fortzahlung des Entgelts ergibt sich aber aus dem Gesetz. Dass der Arbeitgeber auch dann den Lohn fortbezahlen muss, wenn vorübergehend keine Arbeit anfällt, ist eine Selbstverständlichkeit und kein Vorteil, mit dem ein anderweitiger Nachteil ausgeglichen werden kann. Wenn im Restaurant keine oder weniger Kunden als sonst zu bedienen sind, kann der Arbeitgeber nicht etwa den Lohn seiner Beschäftigten kürzen. Das war schon zu Zeiten von Kaiser Wilhelm so; § 615 BGB, aus dem sich das ergibt, gilt seit dem 1. Januar 1900. (...)

Leider gibt es ja kein Rechtsmittel dagegen, dass sich ein nationales Gericht über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hinwegsetzt. Insoweit hat das BAG nur den blauen Himmel über sich.“

Der blaue Himmel nach der Urteilsverkündung

Den sehen auch die Arbeitskraftdealer vom iGZ, dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen und dem BAP, dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister über sich. Sie haben wohl angenommen, dass es aus sein könnte mit dem Arbeitskraft- bzw. „Sklavenhandel“. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung haben sie sich am 31.05.2023 mit einer Presseerklärung ihrer „Verhandlungsgemeinschaft Zeitarbeit“ (VGZ) zu Wort gemeldet. Sven Kramer, ihr zuständiger Verhandlungsführer und stellvertretender Bundesvorsitzender vom iGZ, hat dabei erklärt: „Wir setzen nach wie vor auf eine vertrauensvolle Sozialpartnerschaft mit den DGB-Gewerkschaften und stehen auch weiterhin für die Tarifautonomie. Seit 20 Jahren haben wir auf dieser Basis regelmäßig Tarifwerke vereinbart und weiterentwickelt, in denen stets die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt wurden. Das soll auch so bleiben. Für die Arbeitnehmer ergeben sich daraus verlässliche und gute Arbeitsbedingungen. Für die Arbeitgeber Planungssicherheit und praxisnahe Regelungen (...).“

Auf dieser Basis können sich Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter „vertrauensvoll“ darauf einstellen, dass ihnen ganz „praxisnah“ im M+E- oder sonst wo-Betrieb auch weiterhin Equal Pay durch DGB-Tarifgemeinschafts- oder IGM-Tarifverträge aberkannt wird. Es sei denn, die Stamm-Belegschaften und vor allem die politisch bewussteren Gewerkschaftskolleginnen und Kollegen organisieren mit ihnen gemeinsam den Kampf für ein Verbot der Leiharbeit statt für „verlässliche und regelmäßige Tarifwerke“ mit den Arbeitskraftdealern vom iGZ, BAP oder anderen. Möglicherweise werden dazu auf den Gewerkschaftstagen von ver.di und der IGM im September/Oktober 2023 in diese Richtung gehende Beschlüsse gefasst. Für den Fall wird sich eine Leiharbeitsverbots-Forderung mit dem Lob der „vielen Tariferfolge“ konfrontiert sehen (siehe Kasten zum „Inflationsausgleich“).

Ludwig Jost

IGM-Erfolg auch für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter:

Inflationsausgleich – aber nur bei „Betriebstreue“!

In einer Info zur „Tarifrunde Leiharbeit“ hat die IGM am 16. Juni 2023 festgestellt: „Auch die Leiharbeitsbeschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie erhalten nun eine Inflationsausgleichprämie (IAP): 2.300 Euro netto, zahlbar in monatlichen Raten ab Januar 2024 (...) Zudem gibt es künftig ab dem ersten Einsatztag mehr Geld: Ab 1. September wird die erste Stufe der Branchenzuschläge – plus 15 Prozent auf den Leiharbeitstarif – sofort fällig, nicht wie bisher erst nach sechs Wochen.

Die Ratenzahlung für die IAP beginnt ab Januar mit 300 Euro und für die Monate Februar bis November 2024 mit jeweils 200 Euro. Das macht zusammen die 2.300 Euro. Nach Aussage des IGM-Vorstands waren dafür in den letzten Wochen und Monaten „Tausende Leihbeschäftigte unterstützt von den Stammbeschäftigten bundesweit in Aktion.“ Offensichtlich haben die „Arbeitskraftdealer“ oder wie im Betrieb genannt – die „Sklavenhändler“ – ihnen noch eine Probezeit verordnet, in der sie ihnen auch noch eine schikanen- und entrechtungsresistente Eignung und „Betriebstreue“ nachweisen müssen. Als Anspruchsvoraussetzung für die Inflationsausgleich-Prämie gelten: 5 Monate Betriebszugehörigkeit in der Leihfirma und einen Monat Arbeit in einem Betrieb der Metall- und/oder Elektroindustrie (M+E). Der Tarifvertrag läuft mit Rechtsanspruch nur für IGM-Mitglieder bis Ende 2024. Abgeschlossen ist er mit den Arbeitskrafthändlern vom BAP (Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister) und dem iGZ (Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen). Die haben jetzt 1,5 Jahre Zeit, um den Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern mit dem Verleih ihrer Arbeitskraft an die Autokapitalisten und andere den Inflationsausgleich so schnell wie möglich wieder aus den Knochen zu schinden.

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