KAZ-Fraktion: „Ausrichtung Kommunismus”
Beigefügt sind zwei Texte zur Strategiediskussion aus „Traditionslinien“, die dank Chruschtschow 1956 aus dem Gesichtskreis vieler Kommunisten verbannt wurden!
Wir dokumentieren den folgenden Text, um zur Klärung der Begriffe „Strategie“ und „Taktik“ beizutragen. Es handelt sich um ein Dokument, das für mehrere Generationen von Kommunisten Richtschnur war, aber von bürgerlichen Arbeiterpolitikern verfemt und heute in den Tiefen des Internet versenkt ist.
Aus diesem Thema greife ich sechs Fragen heraus:
a. Strategie und Taktik als Wissenschaft von der Führung des Klassenkampfs des Proletariats;
b. die Etappen der Revolution und die Strategie;
c. Flut und Ebbe der Bewegung und die Taktik;
d. die strategische Führung;
e. die taktische Führung;
f. Reformismus und Revolutionismus.
1. Strategie und Taktik als Wissenschaft von der Führung des Klassenkampfs des Proletariats. Die Periode der Herrschaft der II. Internationale war vorwiegend die Periode der Formierung und Schulung der proletarischen politischen Armeen angesichts einer mehr oder weniger friedlichen Entwicklung. Das war die Periode des Parlamentarismus als der vorwiegenden Form des Klassenkampfs. Die Fragen der großen Zusammenstöße der Klassen, der Vorbereitung des Proletariats zu revolutionären Schlachten, der Wege zur Eroberung der Diktatur des Proletariats standen damals, wie es schien, nicht auf der Tagesordnung. Man beschränkte die Aufgabe darauf, alle Wege der legalen Entwicklung zur Formierung und Schulung der proletarischen Armeen auszunutzen, den Parlamentarismus entsprechend den Bedingungen auszunutzen, bei denen das Proletariat in der Lage der Opposition blieb und, wie es schien, auch bleiben musste. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass es in einer solchen Periode und bei einer solchen Auffassung von den Aufgaben des Proletariats weder eine fest umrissene Strategie noch eine ausgearbeitete Taktik geben konnte.
Wohl gab es Bruchstücke, einzelne Gedanken über Taktik und Strategie, aber eine Taktik und Strategie gab es nicht.
Die Todsünde der II. Internationale besteht nicht darin, dass sie seinerzeit die Taktik der Ausnutzung der parlamentarischen Kampfformen anwandte, sondern darin, dass sie die Bedeutung dieser Formen überschätzte, sie als die nahezu einzigen Kampfformen betrachtete und dass die Parteien der II. Internationale, als die Periode der offenen revolutionären Schlachten anbrach und die Frage der außerparlamentarischen Kampfformen in den Vordergrund rückte, sich von den neuen Aufgaben abwandten, sie ablehnten.
Erst in der nachfolgenden Periode, in der Periode der offenen Aktionen des Proletariats, in der Periode der proletarischen Revolution, als die Frage des Sturzes der Bourgeoisie zu einer Frage der unmittelbaren Praxis wurde, als die Frage nach den Reserven des Proletariats (Strategie) zu einer der brennendsten Fragen wurde, als alle Formen des Kampfes und der Organisation – die parlamentarischen wie die außerparlamentarischen (Taktik) – mit voller Bestimmtheit hervortraten, erst in dieser Periode konnten eine fest umrissene Strategie und eine ausgearbeitete Taktik des Kampfes des Proletariats geschaffen werden. Die genialen Gedanken von Marx und Engels über Taktik und Strategie, die die Opportunisten der II. Internationale hatten in Vergessenheit geraten lassen, wurden gerade in dieser Periode von Lenin ans Licht gezogen. Aber Lenin beschränkte sich nicht auf die Wiederherstellung der einzelnen taktischen Leitsätze von Marx und Engels. Er entwickelte sie weiter und ergänzte sie durch neue Gedanken und Leitsätze, wobei er all dies zu einem System von Regeln und leitenden Grundsätzen für die Führung des Klassenkampfs des Proletariats vereinigte. Lenins Schriften wie Was tun?, Zwei Taktiken, Der Imperialismus, Staat und Revolution, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Die Kinderkrankheit werden zweifellos als wertvollster Beitrag in die allgemeine Schatzkammer des Marxismus, in sein revolutionäres Arsenal eingehen. Die Strategie und Taktik des Leninismus ist die Wissenschaft von der Führung des revolutionären Kampfes des Proletariats.
2. Die Etappen der Revolution und die Strategie. Die Strategie ist die Festlegung der Richtung des Hauptschlags des Proletariats auf der Grundlage der gegebenen Etappe der Revolution, die Ausarbeitung eines entsprechenden Planes für die Aufstellung der revolutionären Kräfte (der Haupt- und Nebenreserven), der Kampf für die Durchführung dieses Planes während des ganzen Verlaufs der gegebenen Etappe der Revolution.
Unsere Revolution hat bereits zwei Etappen durchgemacht und ist nach dem Oktoberumsturz in die dritte Etappe eingetreten. Dementsprechend änderte sich auch die Strategie.
Erste Etappe. 1903 bis Februar 1917. Ziel – Niederwerfung des Zarismus, vollständige Liquidierung der Überreste des Mittelalters. Hauptkraft der Revolution – das Proletariat. Nächste Reserve – die Bauernschaft. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, die bestrebt ist, die Bauernschaft unter ihren Einfluss zu bringen und die Revolution durch eine Verständigung mit dem Zarismus zu liquidieren. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft. „Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand des Absolutismus mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren.“ (Siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd. 9, S. 81 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, S. 497].)
Zweite Etappe. März 1917 bis Oktober 1917. Ziel – Niederwerfung des Imperialismus in Rußland und Ausscheiden aus dem imperialistischen Krieg. Hauptkraft der Revolution – das Proletariat. Nächste Reserve – die arme Bauernschaft. Das Proletariat der Nachbarländer als wahrscheinliche Reserve. Der sich in die Länge ziehende Krieg und die Krise des Imperialismus als günstiges Moment. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der kleinbürgerlichen Demokratie (Menschewiki, Sozialrevolutionäre), die bestrebt ist, die werktätigen Bauernmassen unter ihren Einfluss zu bringen und die Revolution durch eine Verständigung mit dem Imperialismus zu beenden. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis des Proletariats mit der armen Bauernschaft. „Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ (Ebenda.)
Dritte Etappe. Sie begann nach dem Oktoberumsturz. Ziel – Festigung der Diktatur des Proletariats in einem Lande, die zugleich als Stützpunkt zur Überwindung des Imperialismus in allen Ländern benutzt wird. Die Revolution geht über den Rahmen eines einzelnen Landes hinaus, die Epoche der Weltrevolution hat begonnen. Hauptkräfte der Revolution: die Diktatur des Proletariats in einem Lande, die revolutionäre Bewegung des Proletariats in allen Ländern. Hauptreserven: die halbproletarischen und kleinbäuerlichen Massen in den entwickelten Ländern, die Befreiungsbewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern. Richtung des Hauptschlags: Isolierung der kleinbürgerlichen Demokratie, Isolierung der Parteien der II. Internationale, die die Hauptstütze der Politik der Verständigung mit dem Imperialismus bilden. Plan der Aufstellung der Kräfte: Bündnis der proletarischen Revolution mit der Befreiungsbewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern.
Die Strategie befasst sich mit den Hauptkräften der Revolution und ihren Reserven. Sie ändert sich mit dem Übergang der Revolution von einer Etappe zur andern, bleibt jedoch während der ganzen Zeitdauer der gegebenen Etappe im Wesentlichen unverändert.
3. Flut und Ebbe der Bewegung und die Taktik. Die Taktik ist die Festlegung der Linie des Handelns des Proletariats für die verhältnismäßig kurze Periode der Flut oder Ebbe der Bewegung, des Aufstiegs oder Abstiegs der Revolution, sie ist der Kampf für die Durchführung dieser Linie mittels Ersetzung der alten Kampf- und Organisationsformen durch neue, der alten Losungen durch neue, mittels Kombinierung dieser Formen usw. Verfolgt die Strategie das Ziel, den Krieg, sagen wir, gegen den Zarismus oder gegen die Bourgeoisie zu gewinnen, den Kampf gegen den Zarismus oder gegen die Bourgeoisie zu Ende zu führen, so setzt sich die Taktik weniger wesentliche Ziele, denn sie zielt nicht darauf ab, den Krieg als Ganzes, sondern diese oder jene Schlacht, dieses oder jenes Gefecht zu gewinnen, diese oder jene Kampagne, diese oder jene Aktion erfolgreich durchzuführen, die der konkreten Lage in der Periode des gegebenen Aufstiegs oder Abstiegs der Revolution entsprechen. Die Taktik ist ein Teil der Strategie, der ihr untergeordnet ist und ihr dient.
Die Taktik ändert sich, je nachdem, ob wir Flut oder Ebbe haben. Während in der Zeit der ersten Etappe der Revolution (1903 bis Februar 1917) der strategische Plan keine Änderung erfuhr, änderte sich die Taktik in dieser Zeit mehrere Male. In der Periode 1903-1905 war die Taktik der Partei offensiv, denn wir hatten eine Flut der Revolution, die Bewegung war im Aufstieg, und die Taktik musste von dieser Tatsache ausgehen. Dementsprechend waren auch die Kampfformen revolutionär und entsprachen den Anforderungen der Flut der Revolution. Örtliche politische Streiks, politische Demonstrationen, politischer Generalstreik, Boykott der Duma, Aufstand, revolutionäre Kampflosungen – das waren die einander ablösenden Kampfformen in dieser Periode. Mit den Kampfformen änderten sich damals auch die Organisationsformen. Fabrikkomitees, revolutionäre Bauernkomitees, Streikkomitees, Sowjets der Arbeiterdeputierten, eine mehr oder weniger offen auftretende Arbeiterpartei – das waren die Organisationsformen in dieser Periode.
In der Periode 1907-1912 war die Partei gezwungen, zur Taktik des Rückzugs überzugehen, denn wir hatten damals einen Niedergang der revolutionären Bewegung, eine Ebbe der Revolution, und die Taktik musste dieser Tatsache Rechnung tragen. Dementsprechend änderten sich sowohl die Kampfformen als auch die Organisationsformen. Anstatt des Boykotts der Duma – Teilnahme an der Duma, anstatt offener revolutionärer Aktionen außerhalb der Duma – Aktionen und Arbeit in der Duma, anstatt politischer Generalstreiks – wirtschaftliche Teilstreiks oder einfach Windstille. Es versteht sich von selbst, dass die Partei in dieser Periode in die Illegalität gehen musste, die revolutionären Massenorganisationen aber wurden durch Kultur- und Bildungsorganisationen, Genossenschaften, Versicherungskassen und andere legale Organisationen ersetzt.
Dasselbe ist von der zweiten und dritten Etappe der Revolution zu sagen, in deren Verlauf sich die Taktik Dutzende Male änderte, während die strategischen Pläne unverändert blieben.
Die Taktik befasst sich mit den Kampf- und Organisationsformen des Proletariats, mit ihrem Wechsel, ihrer Kombinierung. Auf der Grundlage der gegebenen Etappe der Revolution kann sich die Taktik mehrere Male ändern, je nach Flut oder Ebbe, Aufstieg oder Abstieg der Revolution.
4. Die strategische Führung. Reserven der Revolution gibt es:
direkte: a) die Bauernschaft und überhaupt die Zwischenschichten des eigenen Landes; b) das Proletariat der benachbarten Länder; c) die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern; d) die Eroberungen und Errungenschaften der Diktatur des Proletariats – wobei das Proletariat, nachdem es sich das Kräfteübergewicht gesichert hat, auf einen Teil derselben vorübergehend verzichten kann, um durch Zugeständnisse an den starken Gegner eine Atempause zu erkaufen, und indirekte: a) die Gegensätze und Konflikte zwischen den nichtproletarischen Klassen des eigenen Landes, die vom Proletariat ausgenutzt werden können, um den Gegner zu schwächen und die eigenen Reserven zu stärken; b) die Gegensätze, Konflikte und Kriege (z.B. der imperialistische Krieg) zwischen den dem proletarischen Staat feindlichen bürgerlichen Staaten, die vom Proletariat ausgenutzt werden können bei seiner Offensive oder beim Manövrieren im Falle eines erzwungenen Rückzugs.
Über die Reserven der ersten Art braucht man sich nicht zu verbreiten, da ihre Bedeutung jedermann klar ist. Was die Reserven der zweiten Art betrifft, deren Bedeutung nicht immer klar ist, so muss gesagt werden, dass sie zuweilen von hervorragender Bedeutung für den Gang der Revolution sind. Kaum zu leugnen ist wohl die gewaltige Bedeutung zum Beispiel des Konflikts zwischen der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre) und der liberal-monarchistischen Bourgeoisie (Kadetten) während und nach der ersten Revolution, der zweifellos dazu beitrug, dass die Bauernschaft dem Einfluss der Bourgeoisie entzogen wurde. Man hat noch weniger Grund, die kolossale Bedeutung der Tatsache zu leugnen, dass die Hauptgruppen der Imperialisten während der Periode des Oktoberumsturzes einen Krieg auf Leben und Tod gegeneinander führten, als die Imperialisten, durch den Krieg gegeneinander in Anspruch genommen, nicht die Möglichkeit hatten, ihre Kräfte gegen die junge Sowjetmacht zu konzentrieren, und das Proletariat gerade deshalb die Möglichkeit erhielt, die Organisierung der eigenen Kräfte unmittelbar in Angriff zu nehmen, seine Macht zu festigen und die Zerschmetterung Koltschaks und Denikins vorzubereiten. Es ist anzunehmen, dass jetzt, wo sich die Gegensätze zwischen den imperialistischen Gruppen immer mehr vertiefen und ein neuer Krieg zwischen ihnen unvermeidlich wird, die Reserven dieser Art für das Proletariat immer größere Bedeutung haben werden.
Die Aufgabe der strategischen Führung besteht darin, alle diese Reserven richtig auszunutzen, um das Hauptziel der Revolution in der gegebenen Etappe ihrer Entwicklung zu erreichen.
Worin besteht die richtige Ausnutzung der Reserven?
In der Erfüllung einiger notwendiger Bedingungen, von denen die folgenden als die Hauptbedingungen zu betrachten sind.
Erstens. Die Hauptkräfte der Revolution sind im entscheidenden Augenblick an dem verwundbarsten Punkt des Gegners zu konzentrieren, wenn die Revolution bereits herangereift ist, wenn die Offensive mit Volldampf eingesetzt hat, wenn der Aufstand an die Tore pocht und die Heranziehung der Reserven an die Avantgarde die entscheidende Bedingung für den Erfolg ist. Als Beispiel, das eine derartige Ausnutzung der Reserven veranschaulicht, kann die Strategie der Partei in der Periode April bis Oktober 1917 gelten. Unzweifelhaft war der verwundbarste Punkt des Gegners in dieser Periode der Krieg. Unzweifelhaft hat die Partei gerade durch Aufwerfung dieser Frage, als der Grundfrage, die breitesten Massen der Bevölkerung um die proletarische Avantgarde gesammelt. Die Strategie der Partei in dieser Periode lief darauf hinaus, die Avantgarde durch Kundgebungen und Demonstrationen in Straßenaktionen zu schulen und gleichzeitig durch die Sowjets im Hinterland und durch die Soldatenkomitees an der Front die Reserven an die Avantgarde heranzuziehen. Der Ausgang der Revolution hat gezeigt, dass die Ausnutzung der Reserven die richtige war. Über diese Bedingung der strategischen Ausnutzung der Kräfte der Revolution sagt Lenin, die bekannten Sätze von Marx und Engels über den Aufstand erläuternd:
„1. Nie mit dem Aufstand spielen, hat man ihn aber einmal begonnen, so muss man genau wissen, dass man bis zu Ende gehen muss.
2. Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muss ein großes Übergewicht an Kräften konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, die Aufständischen vernichten.
3. Sobald der Aufstand begonnen hat, gilt es, mit der größten Entschiedenheit zu handeln und unter allen Umständen und unbedingt die Offensive zu ergreifen. ‚Die Defensive ist der Tod der bewaffneten Erhebung.‘
4. Man muss bestrebt sein, den Feind zu überrumpeln und den Augenblick abzupassen, wo seine Truppen zerstreut sind.
5. Es gilt, täglich (handelt es sich um eine Stadt, so können wir sagen stündlich) wenn auch kleine Erfolge zu erreichen und dadurch um jeden Preis das ‚moralische Übergewicht‘ festzuhalten.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 152 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 149].)
Zweitens. Die Wahl des Zeitpunkts für den entscheidenden Schlag, des Zeitpunkts für den Beginn des Aufstands, muss so berechnet sein, dass die Krise ihren Höhepunkt erreicht hat, dass die Bereitschaft der Avantgarde, sich bis zu Ende zu schlagen, die Bereitschaft der Reserve, die Avantgarde zu unterstützen, und die maximale Verwirrung in den Reihen des Gegners schon gegeben sind.
Die entscheidende Schlacht, sagt Lenin, kann als völlig herangereift betrachtet werden, wenn „1. alle uns feindlichen Klassenkräfte genügend in Verwirrung geraten sind, genügend miteinander in Fehde liegen, sich durch den Kampf, der ihre Kräfte übersteigt, genügend geschwächt haben“; wenn „2. alle schwankenden, unsicheren, unbeständigen Zwischenelemente, das heißt das Kleinbürgertum, die kleinbürgerliche Demokratie zum Unterschied von der Bourgeoisie, sich vor dem Volk genügend entlarvt haben, durch ihren Bankrott in der Praxis genügend bloßgestellt sind“; wenn „3. im Proletariat die Massenstimmung zugunsten der Unterstützung der entschiedensten, grenzenlos kühnen, revolutionären Aktionen gegen die Bourgeoisie begonnen hat und machtvoll ansteigt. Ist das der Fall, dann ist die Zeit für die Revolution reif, dann ist unser Sieg, wenn wir alle oben erwähnten ... Bedingungen richtig eingeschätzt und den Augenblick richtig gewählt haben, dann ist unser Sieg sicher.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 74 [deutsch in Ausgewählte Werkein zwei Bänden, Bd. II, S. 738].)
Als Muster einer solchen Strategie kann die Durchführung des Oktoberaufstands gelten.
Verstöße gegen diese Bedingung führen zu dem gefährlichen Fehler, den man „Tempoverlust“ nennt: wenn die Partei hinter dem Gang der Bewegung zurückbleibt oder weit vorauseilt und dadurch die Gefahr der Niederlage heraufbeschwört. Als Beispiel eines solchen „Tempoverlusts“, als Beispiel dafür, wie der Zeitpunkt für einen Aufstand nicht gewählt werden darf, ist der Versuch eines Teils der Genossen anzusehen, den Aufstand mit der Verhaftung der Demokratischen Beratung im September 1917 zu beginnen, als in den Sowjets noch ein Schwanken zu verspüren war, die Frontsoldaten noch am Scheideweg standen und die Reserven noch nicht an die Avantgarde herangezogen waren.
Drittens. Der einmal eingeschlagene Kurs muss unbeirrt durchgeführt werden, ungeachtet aller und jeglicher Schwierigkeiten und Komplikationen auf dem Wege zum Ziel; dies ist notwendig, damit die Avantgarde das Hauptziel des Kampfes nicht aus dem Auge verliert und damit die Massen, die diesem Ziel zustreben und bemüht sind, sich um die Avantgarde zusammenzuschließen, nicht vom Wege abirren. Verstöße gegen diese Bedingung führen zu einem gewaltigen Fehler, der den Seeleuten unter der Bezeichnung „Kurs verlieren“ wohlbekannt ist. Als Beispiel eines solchen „Kursverlierens“ ist die verfehlte Haltung unserer Partei unmittelbar nach der Demokratischen Beratung anzusehen, als die Partei den Beschluss fasste, sich am Vorparlament zu beteiligen. Die Partei vergaß in diesem Augenblick gleichsam, dass das Vorparlament ein Versuch der Bourgeoisie ist, das Land vom Wege der Sowjets auf den Weg des bürgerlichen Parlamentarismus hinüberzuführen, dass die Teilnahme der Partei an einer solchen Institution geeignet ist, alle Karten durcheinander zu bringen und die Arbeiter und Bauern, die den revolutionären Kampf unter der Losung „Alle Macht den Sowjets!“ führen, von ihrem Wege abzubringen. Dieser Fehler wurde dadurch wieder gutgemacht, dass die Bolschewiki aus dem Vorparlament austraten.
Viertens. Mit den Reserven muss man so manövrieren, dass man einen geordneten Rückzug antreten kann, wenn der Feind stark ist, wenn der Rückzug unvermeidlich ist, wenn es offenkundig unvorteilhaft ist, den Kampf, den uns der Feind aufzwingen will, anzunehmen, wenn der Rückzug bei dem gegebenen Kräfteverhältnis das einzige Mittel ist, die Avantgarde den Schlägen des Gegners zu entziehen und ihr die Reserven zu erhalten.
„Revolutionäre Parteien“, sagt Lenin, „müssen zulernen. Sie haben gelernt anzugreifen. Jetzt muss man begreifen, dass man diese Wissenschaft durch die Wissenschaft ergänzen muss, wie man sich richtiger zurückzieht. Man muss begreifen – und die revolutionäre Klasse lernt aus eigener bitterer Erfahrung zu begreifen –, dass man nicht siegen kann, ohne gelernt zu haben, richtig anzugreifen und sich richtig zurückzuziehen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 111/2 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 676].)
Das Ziel einer solchen Strategie ist, Zeit zu gewinnen, den Gegner zu zersetzen und Kräfte anzusammeln, um dann zum Angriff überzugehen.
Als das Muster einer solchen Strategie kann der Abschluss des Brester Friedens betrachtet werden, der der Partei die Möglichkeit gab, Zeit zu gewinnen, die Zusammenstöße im Lager des Imperialismus auszunutzen, die Kräfte des Gegners zu zersetzen, die Bauernschaft an ihrer Seite zu behalten und Kräfte zu sammeln, um die Offensive gegen Koltschak und Denikin vorzubereiten.
„Indem wir einen Separatfrieden schließen“, sagte Lenin damals, „befreien wir uns im höchsten für den gegebenen Augenblick möglichen Grade von beiden einander bekämpfenden imperialistischen Gruppen, nutzen ihre Feindschaft und ihren Krieg – der es ihnen erschwert, ein Abkommen gegen uns zu treffen – aus, bekommen für eine gewisse Periode die Hände frei, um die sozialistische Revolution fortzusetzen und zu festigen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 26, S. 407, russ.)
„Jetzt sieht auch der Dümmste“, sagte Lenin drei Jahre nach dem Brester Frieden, „dass der ‚Brester Friede‘ ein Zugeständnis war, das uns stärkte und die Kräfte des internationalen Imperialismus zersplitterte“ (siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 4, russ.).
Das sind die Hauptbedingungen, die die Richtigkeit der strategischen Führung sichern.
5. Die taktische Führung. Die taktische Führung ist ein Teil der strategischen Führung und deren Aufgaben und Erfordernissen untergeordnet. Die Aufgabe der taktischen Führung besteht darin, dass alle Kampf- und Organisationsformen des Proletariats gemeistert und ihre richtige Ausnutzung sichergestellt werden, um bei dem gegebenen Kräfteverhältnis das Maximum an Resultaten zu erzielen, das zur Vorbereitung des strategischen Erfolgs nötig ist.
Worin besteht die richtige Ausnutzung der Kampf- und Organisationsformen des Proletariats?
In der Erfüllung einiger notwendiger Bedingungen, unter denen die folgenden als die Hauptbedingungen zu betrachten sind:
Erstens. In den Vordergrund zu stellen sind diejenigen Kampf- und Organisationsformen, die den Bedingungen der gegebenen Ebbe oder Flut der Bewegung am besten entsprechen und geeignet sind, das Heranführen der Massen an die revolutionären Positionen, das Heranführen der Millionenmassen an die Front der Revolution und ihre Verteilung an der Front der Revolution zu erleichtern und sicherzustellen.
Es handelt sich nicht darum, dass die Avantgarde die Unmöglichkeit, die alte Ordnung aufrechtzuerhalten und die Unvermeidlichkeit ihres Sturzes erkennt. Es handelt sich darum, dass die Massen, die Millionenmassen, diese Unvermeidlichkeit begreifen und die Bereitschaft an den Tag legen, die Avantgarde zu unterstützen. Doch können die Massen dies nur auf Grund der eigenen Erfahrung begreifen. Den Millionenmassen die Möglichkeit zu geben, durch eigene Erfahrung die Unvermeidlichkeit des Sturzes der alten Macht zu erkennen, und diejenigen Kampfmethoden und Organisationsformen in den Vordergrund zu stellen, die es den Massen erleichtern würden, en Hand der Erfahrung die Richtigkeit der revolutionären Losungen zu erkennen – darin besteht die Aufgabe.
Die Avantgarde würde sich von der Arbeiterklasse losgelöst und die Arbeiterklasse würde ihre Verbindung mit den Massen verloren haben, wenn die Partei seinerzeit nicht beschlossen hätte, sich an der Duma zu beteiligen, wenn sie nicht beschlossen hätte, ihre Kräfte auf die Arbeit in der Duma zu konzentrieren und den Kampf auf der Grundlage dieser Arbeit zu entfalten, um es den Massen zu erleichtern, durch eigene Erfahrung die Zwecklosigkeit der Duma, die Verlogenheit der Versprechungen der Kadetten, die Unmöglichkeit einer Verständigung mit dem Zarismus und die Unvermeidlichkeit des Bündnisses zwischen Bauernschaft und Arbeiterklasse zu erkennen. Ohne die Erfahrungen der Massen in der Dumaperiode wäre die Entlarvung der Kadetten und die Hegemonie des Proletariats unmöglich gewesen.
Die Gefährlichkeit der Taktik des Otsowismus bestand darin, dass sie die Avantgarde von ihren Millionenreserven loszulösen drohte.
Die Partei würde sich von der Arbeiterklasse losgelöst und die Arbeiterklasse würde ihren Einfluss auf die breiten Massen der Bauern und Soldaten eingebüßt haben, wenn das Proletariat den „linken“ Kommunisten Gefolgschaft geleistet hätte, die im April 1917 zum Aufstand riefen, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich noch nicht als Anhänger des Krieges und des Imperialismus entlarvt hatten, als die Massen noch nicht durch eigene Erfahrung die Verlogenheit der menschewistisch-sozialrevolutionären Reden über Frieden, Boden und Freiheit erkannt hatten. Ohne die Erfahrungen der Massen während der Kerenskiperiode wären die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht isoliert worden, und die Diktatur des Proletariats wäre unmöglich gewesen. Deshalb war die Taktik der „geduldigen Aufklärung“ über die Fehler der kleinbürgerlichen Parteien und des offenen Kampfes innerhalb der Sowjets die einzig richtige Taktik.
Die Gefährlichkeit der Taktik der „linken“ Kommunisten bestand darin, dass sie die Partei aus der Führerin der proletarischen Revolution in ein Häuflein hohlköpfiger Verschwörer ohne Boden unter den Füßen zu verwandeln drohte.
„Mit der Avantgarde allein“, sagt Lenin, „kann man nicht siegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen, solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht eine Position eingenommen haben, wo sie die Avantgarde entweder direkt unterstützen oder wenigstens wohlwollende Neutralität ihr gegenüber üben ..., wäre nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegende Gesetz aller großen Revolutionen, das sich jetzt mit überraschender Kraft und Anschaulichkeit nicht nur in Rußland, sondern auch in Deutschland bestätigt hat. Nicht nur die auf niedriger Kulturstufe stehenden, oft des Lesens und Schreibens unkundigen Massen Rußlands, sondern auch die auf hoher Kulturstufe stehenden, durchweg des Lesens und Schreibens kundigen Massen Deutschlands mussten am eigenen Leibe die ganze Ohnmacht, die ganze Charakterlosigkeit, die ganze Hilflosigkeit, die ganze Liebedienerei gegenüber der Bourgeoisie, die ganze Gemeinheit der Regierung der Ritter der II. Internationale, die ganze Unvermeidlichkeit der Diktatur der äußersten Reaktionäre (Kornilow in Rußland, Kapp und Konsorten in Deutschland) erfahren als einzige Alternative gegenüber der Diktatur des Proletariats, um sich entschieden dem Kommunismus zuzuwenden.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 73 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 737].)
Zweitens. In jedem gegebenen Augenblick ist jenes besondere Glied in der Kette der Prozesse aufzufinden, das man anpacken muss, um die ganze Kette festhalten und die Bedingungen für die Erreichung des strategischen Erfolgs vorbereiten zu können.
Es handelt sich darum, aus der Reihe der Aufgaben, vor denen die Partei steht, gerade diejenige aktuelle Aufgabe herauszugreifen, deren Lösung den Zentralpunkt bildet und deren Bewältigung die erfolgreiche Lösung der übrigen aktuellen Aufgaben sichert.
Die Bedeutung dieses Leitsatzes kann an zwei Beispielen veranschaulicht werden, von denen das eine einer fernen Vergangenheit (der Periode der Bildung der Partei) und das andere der uns nächstliegenden Gegenwart (der Periode der NÖP) entnommen ist.
In der Periode der Bildung der Partei, als die unzähligen Zirkel und Organisationen noch nicht miteinander verbunden waren, als die Handwerklerei und das Zirkelwesen die Partei von oben bis unten zerfraßen, als die ideologische Zerfahrenheit das charakteristische Merkmal des inneren Lebens der Partei bildete, in dieser Periode bestand das Hauptglied in der Kette der Glieder und die Hauptaufgabe in der Kette der Aufgaben, vor denen die Partei damals stand, in der Schaffung einer gesamt-russischen illegalen Zeitung (Iskra). Warum? Weil man nur mit Hilfe einer gesamtrussischen illegalen Zeitung unter den damaligen Verhältnissen einen Parteikern schaffen konnte, der in ein und dieselbe Kerbe hieb und imstande war, die unzähligen Zirkel und Organisationen zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden, die Bedingungen für die ideologische und taktische Einheit vorzubereiten und auf diese Weise das Fundament für die Bildung einer wirklichen Partei zu legen.
In der Periode des Übergangs vom Krieg zum wirtschaftlichen Aufbau, als die Industrie in den Fängen der Zerrüttung dahinvegetierte und die Landwirtschaft unter dem Mangel an städtischen Erzeugnissen litt, als der Zusammenschluss zwischen der staatlichen Industrie und der bäuerlichen Wirtschaft zur Grundbedingung des erfolgreichen sozialistischen Aufbaus wurde, in dieser Periode bildete die Entwicklung des Handels das Hauptglied in der Kette der Prozesse, die Hauptaufgabe in der Reihe anderer Aufgaben. Warum? Weil unter den Verhältnissen der NÖP der Zusammenschluss zwischen der Industrie und der bäuerlichen Wirtschaft nicht anders möglich ist als durch den Handel, weil Produktion ohne Absatz unter den Verhältnissen der NÖP für die Industrie den Tod bedeutet, weil man die Industrie nur erweitern kann, wenn man den Absatz durch Entwicklung des Handels erweitert, weil man nur dann, wenn man auf dem Gebiet des Handels festen Fuß gefasst hat, nur wenn man den Handel gemeistert hat, nur wenn man dieses Kettenglied gemeistert hat, darauf hoffen kann, die Industrie und den bäuerlichen Markt eng miteinander zu verbinden und mit Erfolg andere aktuelle Aufgaben zu lösen, um die Bedingungen für die Errichtung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft zu schaffen.
„Es genügt nicht, Revolutionär und Anhänger des Sozialismus oder Kommunist im Allgemeinen zu sein ...“, sagt Lenin. „Man muss es verstehen, in jedem Augenblick jenes besondere Kettenglied zu finden, das man mit aller Kraft anpacken muss, um die ganze Kette festzuhalten und den Übergang zum nächsten Kettenglied sicher vorzubereiten ...“
„Im gegebenen Augenblick ist ... ein solches Kettenglied die Belebung des inneren Handels bei einer richtigen Regulierung (Lenkung) durch den Staat. Der Handel ist jenes Glied in der historischen Kette der Ereignisse, in den Übergangsformen unseres sozialistischen Aufbaus der Jahre 1921-1922, das wir ... ‚mit aller Kraft anpacken müssen‘.“ (Siehe 4.Ausgabe, Bd. 33, S. 88, 89 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 895, 896].)
Das sind die Hauptbedingungen, die die Richtigkeit der taktischen Führung sichern.
6. Reformismus und Revolutionismus. Wodurch unterscheidet sich die revolutionäre Taktik von der reformistischen Taktik?
Manche meinen, dass der Leninismus überhaupt gegen Reformen, gegen Kompromisse und Verständigungen sei. Das ist völlig falsch. Die Bolschewiki wissen nicht weniger als alle anderen, dass in gewissem Sinne „jede Gabe genehm ist“, dass unter gewissen Umständen Reformen im Allgemeinen, Kompromisse und Verständigungen im Besonderen notwendig und nützlich sind.
„Krieg führen zum Sturz der internationalen Bourgeoisie“, sagt Lenin, „einen Krieg, der hundertmal schwieriger, langwieriger, komplizierter ist als der hartnäckigste der gewöhnlichen Kriege zwischen Staaten, und dabei im voraus auf Lavieren, auf die Ausnutzung der (wenn auch zeitweiligen) Interessengegensätze zwischen den Feinden, auf Verständigungen und Kompromisse mit möglichen (wenn auch zeitweiligen, unbeständigen, schwankenden, bedingten) Verbündeten verzichten – ist das nicht eine über alle Maßen lächerliche Sache? Ist das nicht dasselbe, als wollte man bei einem schwierigen Aufstieg auf einen noch unerforschten und bis dahin unzugänglichen Berg von vornherein darauf verzichten, manchmal im Zickzack zu gehen, manchmal umzukehren, die einmal gewählte Richtung aufzugeben und verschiedene Richtungen zu versuchen?“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 31, S. 51 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 715].)
Es kommt offenbar nicht auf die Reformen oder Kompromisse und Verständigungen selbst an, sondern auf den Gebrauch, den man von den Reformen und Verständigungen macht.
Für den Reformisten ist die Reform alles, die revolutionäre Arbeit aber Nebensache, ein Unterhaltungsthema, ein Täuschungsmanöver. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer reformistischen Taktik unter Verhältnissen des Bestehens der bürgerlichen Macht unvermeidlich in ein Werkzeug zur Festigung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Zersetzung der Revolution.
Für den Revolutionär dagegen ist umgekehrt die revolutionäre Arbeit die Hauptsache und nicht die Reform, für ihn ist die Reform ein Nebenprodukt der Revolution. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer revolutionären Taktik unter Verhältnissen des Bestehens der bürgerlichen Macht naturgemäß in ein Werkzeug zur Zersetzung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Festigung der Revolution, in einen Stützpunkt zur weiteren Entwicklung der revolutionären Bewegung.
Der Revolutionär akzeptiert die Reform nur, um sie als Anknüpfungspunkt zur Verbindung der legalen und der illegalen Arbeit und als Deckung zur Verstärkung der illegalen Arbeit zu benutzen zwecks revolutionärer Vorbereitung der Massen zum Sturz der Bourgeoisie.
Darin besteht das Wesen der revolutionären Ausnutzung der Reformen und Kompromisse unter den Bedingungen des Imperialismus.
Der Reformist dagegen ist umgekehrt für Reformen, um jede illegale Arbeit von sich zu weisen, die Vorbereitung der Massen zur Revolution zu hintertreiben und im Schatten der „geschenkten“ Reform der Ruhe zu pflegen.
Darin besteht das Wesen der reformistischen Taktik.
So verhält es sich mit Reformen und Kompromissen unter den Bedingungen des Imperialismus.
Die Sache ändert sich jedoch einigermaßen nach dem Sturz des Imperialismus, unter der Diktatur des Proletariats. Unter bestimmten Umständen, in einer bestimmten Situation kann die proletarische Macht sich gezwungen sehen, vorübergehend vom Wege des revolutionären Umbaus der bestehenden Ordnung auf den Weg ihrer allmählichen Umgestaltung überzugehen, „auf den reformistischen Weg“, wie Lenin in seinem bekannten Artikel „über die Bedeutung des Goldes“[2] sagt, auf den Weg von Umgehungsbewegungen, auf den Weg von Reformen und Zugeständnissen an die nichtproletarischen Klassen, um diese Klassen zu zersetzen, der Revolution eine Atempause zu verschaffen, Kräfte zu sammeln und die Bedingungen für eine neue Offensive vorzubereiten. Es lässt sich nicht leugnen, dass dieser Weg in gewissem Sinne ein „reformistischer“ Weg ist. Nur muss man daran denken, dass wir es hier mit einer grundlegenden Besonderheit zu tun haben, die darin besteht, dass die Reform in diesem Falle von der proletarischen Macht ausgeht, dass sie die proletarische Macht stärkt, dass sie ihr die notwendige Atempause verleiht, dass sie berufen ist, nicht die Revolution, sondern die nichtproletarischen Klassen zu zersetzen.
Die Reform verwandelt sich somit unter solchen Umständen in ihr Gegenteil.
Die Durchführung einer solchen Politik durch die proletarische Macht wird deshalb und nur deshalb möglich, weil der Schwung der Revolution in der vorangegangenen Periode groß genug war und somit genügend breiten Raum zum Rückzug geschaffen hat, um an die Stelle der Taktik des Angriffs die Taktik des vorübergehenden Rückzugs, die Taktik der Umgehungsbewegungen setzen zu können.
Waren also früher, unter der Macht der Bourgeoisie, die Reformen ein Nebenprodukt der Revolution, so sind jetzt, unter der Diktatur des Proletariats, die Quelle der Reformen die revolutionären Errungenschaften des Proletariats, die angehäufte Reserve in den Händen des Proletariats, die aus diesen Errungenschaften gebildet wird.
„Das Verhältnis von Reformen und Revolution“, sagt Lenin, „ist nur vom Marxismus genau und richtig bestimmt worden, wobei Marx dieses Verhältnis nur von der einen Seite sehen konnte, nämlich in einer Situation, die dem ersten mehr oder weniger festen, mehr oder weniger dauerhaften Siege des Proletariats, sei es auch nur in einem Lande, vorausging. In einer solchen Situation war die Grundlage eines richtigen Verhältnisses die folgende: Reformen sind das Nebenprodukt des revolutionären Klassenkampfes des Proletariats ... Nach dem Siege des Proletariats, sei es auch nur in einem Lande, tritt etwas Neues in dem Verhältnis von Reformen und Revolution ein. Prinzipiell hat sich nichts geändert, aber in der Form tritt eine Veränderung ein, die Marx persönlich nicht voraussehen konnte, der man sich jedoch nur auf dem Boden der Philosophie und Politik des Marxismus bewusst werden kann ... Nach dem Siege sind sie [das heißt die Reformen. J. St.] (während sie im internationalen Maßstab nach wie vor ein ,Nebenprodukt‘ bleiben) für das Land, in dem der Sieg erfochten ist, außerdem eine notwendige und berechtigte Atempause in Fällen, wo die Kräfte, nachdem man sie aufs höchste angespannt hat, zur revolutionären Ausführung dieses oder jenes Übergangs offensichtlich nicht ausreichen. Der Sieg liefert einen solchen ‚Kräftevorrat‘, dass man sogar bei einem erzwungenen Rückzug durchhalten kann – durchhalten sowohl im materiellen wie im moralischen Sinne.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 33, S. 91, 92 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 898, 899].)
1 https://www.marxists.org/deutsch/referenz/stalin/1924/grundlagen/kap7.htm
2 siehe W. I. Lenins Artikel „Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem vollen Sieg des Sozialismus“ (Werke, 4. Ausgabe, Bd. 33, S.85-92 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S.892-899]).
Stalin, Lenin und Kalinin (1919)
Chinesische Sonderbriefmarke anlässlich des Freundschaftsvertrages zwischen der Sowjetunion und der VR China (Februar 1950)