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Für Dialektik in Organisationsfragen

ERA, das Entgeltrahmenabkommen der IGM und der Preis für die Ware Arbeitskraft

„Wir müssen unsere Arbeitskraft so teuer wie möglich verkaufen!“

So heißt die in den Auseinandersetzungen mit dem Kapital über die Höhe der Arbeitslöhne in der Arbeiterbewegung entstandene Forderung. Nach wie vor wird sie von Kolleginnen und Kollegen bei Gewerkschaftsseminaren und/oder Konferenzen aber insbesondere bei Tarifverhandlungen gestellt. Am Beispiel des ERA-Tarifvertrages haben wir in der KAZ Nr. 320 (S.4-11) untersucht, wie es um die Durchsetzung dieser Forderung z.B. bei der IG Metall bestellt ist. Ursache unserer Untersuchung waren die vielen Proteste und Streiks in den Betrieben gegen das ERA. Dabei konnten wir nachweisen, dass die IGM-Führung zum Teil hohe Lohn-/Akkordkürzungen, Abgruppierungs- und Anrechnungsmöglichkeiten unterschrieben hat, um einen offensichtlich zum Prestigeobjekt („Jahrhundertwerk“ u. a.) gemachten Tarifvertrag durchzusetzen. Hierbei ist die Auseinandersetzung über die Einführung dieses Tarifvertrages in den Metallbetrieben – wenn überhaupt – erst in 2009 beendet. Über seine weiteren Auswirkungen ist damit noch nichts gesagt.

Erst kürzlich haben in Crailsheim bei Schwäbisch Hall 500 Arbeiter und Angestellte im Maschinenbaukonzern Voith gegen die Auswirkungen des ERA gestreikt. Dabei gab es auch in zum Konzern gehörenden Betrieben in Ravensburg und Heidenheim in Baden-Württemberg Protestaktionen. Wie gehabt, hieß es hierbei wieder, die Kapitalisten würden das ERA missbrauchen, um das Qualifizierungsniveau der Facharbeit im Betrieb zu verschlechtern. So stellte die Erste Bevollmächtigte der IG Metall Schwäbisch Hall, Heidi Scharf, auf Nachfrage der Zeitung „junge Welt“ fest: „Statt einer dreieinhalbjährigen Berufsausbildung solle eine zweijährige Ausbildung zur Grundlage für die Eingruppierung der Facharbeiter gemacht werden. Lohnverluste von zum Teil mehreren hundert Euro seien die Folge.“[1]

Mit dem nachfolgenden Beitrag wollen wir unsere Untersuchung fortsetzen und überprüfen, ob nicht die „Eingruppierungs- und Bewertungsmerkmale“ des ERA, für die o. g. Lohnverluste mit verantwortlich sind. Das geschieht insbesondere mit Blick auf die Sicherung des Wertes der Arbeitskraft und was dazu von Karl Marx wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Ökonomische Erkenntnisse, die in den Gewerkschaften nicht mehr bekannt sind bzw. bewusst verdrängt wurden und werden. Dazu gehört, dass die Arbeitskraft im Kapitalismus eine Ware wie jede andere ist. Die Lohnabhängigen sind gezwungen, sie den Kapitalisten unbefristet, befristet, projektbezogen usw. – so wie es heute üblich ist – für einen Betrag von X Euro Stunden-, oder „ERA- Monatsentgelt“ zur Sicherung ihrer Existenz zu verkaufen. Auf diesem Wege kommt der Arbeitsvertrag zustande.

In den Köpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter, von Gewerkschaftsführern und ihren „Tarifexperten“ hat sich hierbei festgesetzt: Mit Lohn/Gehalt bzw. mit dem Monatsentgelt werden die Arbeit, „Arbeitswerte“, Arbeitsleistung o. ä. bezahlt. Aber wie man landläufig des öfteren feststellt: „Der Schein trügt!“. Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst und einmal im Jahr um die Sonne. Trotzdem klettern wir auf Berge oder fahren ans Meer um die herrlichen „Sonnenauf- und -untergänge“ zu bewundern oder zu besingen. So wie mit dem Lied „Wenn bei Capri die rote Sonne ins Meer versinkt ...“ Dabei geht die Sonne weder auf noch unter und sie versinkt so wenig ins Meer wie mit dem Arbeitslohn irgendeine Arbeitsleistung bezahlt wird. Der Arbeitslohn ist der Name für den Preis, den die Kapitalisten den Lohnabhängigen für ihre Ware, die Arbeitskraft bezahlen.

Der Schein trügt!

„Obgleich nur ein Teil des Tagewerks des Arbeiters aus bezahlter, der andere dagegen aus unbezahlter Arbeit besteht, und gerade diese unbezahlte oder Mehrarbeit den Fonds konstituiert, woraus der Mehrwert oder Profit sich bildet, hat es den Anschein, als ob die ganze Arbeit aus bezahlter Arbeit bestünde.

Dieser täuschende Schein ist das unterscheidende Merkmal der Lohnarbeit gegenüber andern historischen Formen der Arbeit. Auf Basis des Lohnsystems erscheint auch die unbezahlte Arbeit als bezahlt. Beim Sklaven umgekehrt erscheint auch der bezahlte Teil seiner Arbeit als unbezahlt. Natürlich muss der Sklave, um zu arbeiten, leben, und ein Teil seines Arbeitstags geht drauf als Ersatz des zu seiner eignen Erhaltung verbrauchten Werts. Da aber zwischen ihm und seinem Herrn kein Handel abgeschlossen wird und zwischen beiden Parteien keine Verkaufs- und Kaufsakte vor sich gehen, so erscheint alle seine Arbeit als Gratisarbeit.

Nehmt andrerseits den Fronbauern ... Dieser Bauer arbeitete z. B. 3 Tage für sich auf seinem eignen oder dem ihm zugewiesnen Felde, und die drei folgenden Tage verrichtete er zwangsweise Gratisarbeit auf dem herrschaftlichen Gut. Hier waren also der bezahlte und unbezahlte Teil der Arbeit sichtbar getrennt, zeitlich und räumlich getrennt; und unsere Liberalen schäumten über vor moralischer Entrüstung angesichts der widersinnigen Idee, einen Menschen umsonst arbeiten zu lassen.

Faktisch jedoch bleibt es sich gleich, ob einer 3 Tage in der Woche für sich auf seinem eignen Felde und 3 Tage umsonst auf dem herrschaftlichen Gut, oder ob er 6 Stunden täglich in der Fabrik oder Werkstatt für sich und 6 Stunden für den Lohnherrn arbeitet, obgleich in letzterem Fall der bezahlte und unbezahlte Teil seiner Arbeit unentwirrbar miteinander vermengt sind, so dass die Natur der ganzen Transaktion durch die Dazwischenkunft eines Kontrakts und die am Ende der Woche erfolgende Zahlung völlig verschleiert wird. Die Gratisarbeit erscheint in dem einen Fall als freiwillige Gabe und in dem anderen als Frondienst. Das ist der ganze Unterschied.“ (Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW Bd.16, S.134)

Was versteht man unter Arbeitskraft?

Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“ (Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 181)

Nachdem sie die Arbeitskraft gekauft haben, gebrauchen und verbrauchen sie sie im Produktionsprozeß („Verschleiß der Arbeitskraft“). Wie viel Leistung sie dann durch Intensivierung der Arbeit aus ihr herauspulvern, steht dabei auf einem anderen Blatt.

„Die eigentümliche Natur dieser spezifischen Ware, der Arbeitskraft, bringt es mit sich, dass mit der Abschließung des Kontrakts zwischen Käufer und Verkäufer ihr Gebrauchswert noch nicht wirklich in die Hand des Käufers übergegangen ist. Ihr Wert, gleich dem jeder anderen Ware, war bestimmt, bevor sie in die Zirkulation trat, denn ein bestimmtes Quantum gesellschaftlicher Arbeit ward zur Produktion der Arbeitskraft verausgabt, aber ihr Gebrauchswert besteht erst in der nachträglichen Kraftäußerung. Die Veräußerung der Kraft und ihre wirkliche Äußerung, d. h. ihr Dasein als Gebrauchswert, fallen daher der Zeit nach auseinander.“[2] (...)

Der Wert der Arbeitskraft

Was heißt das jetzt? Der Wert der Waren entspricht dem zu ihrer Herstellung notwendigen durchschnittlichen Gesamtarbeitsquantum. Was gleichbedeutend ist mit der dafür aufgewendeten Arbeitszeit. Bezogen auf die Ware Arbeitskraft bedeutet das: Ihr Wert ist schon vorhanden, wenn der Kapitalist sie kauft. Er entspricht dem Wert (Arbeitsquantum, Arbeitszeit) der Lebensmittel, die zu ihrer Produktion, Entwicklung, Erhaltung, Reproduktion und Fortpflanzung notwendig sind. Nehmen wir jetzt an beim Stand des heutigen technischen Fortschritts müssen zur Produktion des Werts der durchschnittlichen Menge der notwendigen Lebensmittel täglich 4 Stunden gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit aufgewendet werden.[3] Bei einer 5-Tage-Woche macht das wöchentlich 20 und auf den Monat gerechnet 87 Stunden (20x4,35). Nehmen wir hierbei an, der Wert der monatlichen zur Erhaltung der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel beträgt in Geld ausgedrückt 2.500 Euro. Nach dem IGM Tarifvertrag in NRW entspricht das ungefähr dem momentanen ERA „Monatsgrundentgelt“ der Entgeltgruppe 10 (2.525 Euro) ohne Leistungszulage. Hat der Kapitalist jetzt die Arbeitskraft zu diesem Preis gekauft, bezahlt er damit ihren Monatswert, den Arbeiter und Angestellte ihm mit 87 Stunden Arbeit ersetzt haben. Sie könnten danach sagen, „genug gearbeitet, damit sind wir quitt und tschüß!“

Aber so läuft das nicht. Der Kapitalist würde sofort laut protestieren: „Moment mal, ich habe mit euch die 40-Stunden-Woche (z. B.) nach dem Metalltarif arbeitsvertraglich vereinbart. Das macht im Monat 174 Stunden, also haut rein!“

Notwendige Arbeit und Mehrarbeit

Arbeiter und Angestellte arbeiten also über die in unserem Beispiel zum Ersatz ihres Arbeitslohns angenommenen notwendigen 4 Arbeitsstunden hinaus, weitere 4 Stunden täglich. Hierbei schaffen sie Werte, welche sich die Kapitalisten unentgeltlich aneignen. Damit sind wir bei der Teilung des Arbeitstages in einen bezahlten und einen unbezahlten Teil angekommen. Ohne diese Teilung ist der Kapitalismus nicht denkbar. Dahinter verbirgt sich das „Geheimnis“ der kapitalistischen Ausbeutungsweise. Sie spielt sich sozusagen unbemerkt hinter dem Rü­cken der Lohnabhängigen ab. Wobei die Arbeiter nicht feststellen können, wann die bezahlte Arbeitszeit aufhört und die unbezahlte anfängt. Marx nennt hierbei die zur Ersetzung der Arbeitskraft bezahlten Arbeitsstunden „notwendige Arbeitszeit“. Die unentgeltlich geleisteten Arbeitstunden bezeichnet er als „Stunden der Mehrarbeit[4], welche Mehrarbeit sich vergegenständlichen wird, in einem Mehrwert und einem Mehrprodukt[5] (...).

Darum sind die Kapitalisten so scharf auf unentgeltliche Verlängerung der Arbeitszeit. Als Quelle des „Mehrwerts“ und des „Mehrprodukts“ ist sie zugleich die Quelle der Milliardenprofite und des Reichtums auf der Seite der Kapitalisten und der ständig wachsenden Armut auf der Seite der Arbeiterklasse.

ERA und der Wert der Arbeitskraft

„Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt direkt gegenüber tritt, ist in der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letztrer verkauft, ist seine Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden. Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert.“[6] (...)

Ganz offensichtlich passen diese Erkenntnisse nicht ins Konzept der IGM-Führung und ihrer „Tarifexperten“. So stellt der für die Tarifpolitik in der IGM Bezirksleitung NRW zuständige Sekretär Sadowsky in einem Rundschreiben u. a. fest:

„Das neue System zur Bewertung von Arbeit in der Metall- und Elektroindustrie ,ERA’ löst die alten Bewertungssysteme ,Lohnrahmenabkommen’ und ,Gehaltsrahmenabkommen’ ab. (...) Die Tarifverträge ,Lohnrahmenabkommen’, ,Gehaltsrahmenabkommen’ und jetzt neu ,ERA’ bewerten Arbeit und sorgen so dafür, dass es einen tarifvertraglichen Minimalanspruch auf X Euro pro Stunde für die jeweilige Arbeit gibt. Ein solcher Minimalanspruch ließ sich mit den alten Tarifverträgen nicht mehr in allen Fällen ausreichend begründen. Damit drohte die Bezahlung von Arbeit langfristig ein Akt unternehmerischer Willkür zu werden. Um dies zu verhindern, hat die IG Metall die Tarifverträge ,Lohnrahmenabkommen’ und ,Gehaltsrahmenabkommen’ gekündigt und ein neues Tarifsystem angestrebt, das im Dezember 2003 mit ,ERA’ verwirklicht wurde.“ (Hervorhebungen durch die AG)

Die Arbeit selber hat keinen Wert (s. o.), aber sie schafft alle Werte. Aber durch ERA (ebenso ähnliche Tarifverträge) wird das anders. Nach dem Motto „was nicht ist, kann noch werden“, erklärt Kollege Sadowsky den Mitgliedern der IGM, was unmöglich ist: Der Arbeit bzw. den „Arbeitsaufgaben“ werden durch die „Bewertungssysteme“ des ERA Werte zugefügt. In der Konsequenz heißt das, bevor Arbeiter und Angestellte durch ihre Arbeit einen Wert schaffen können, ist der Wert schon vorhanden. Er tritt ihnen mit der jeweiligen „Entgeltgruppe“ gegenüber. Die besagt: Alle Arbeiten in dieser Gruppe – Herstellen oder Reparieren von Maschinen oder welche Arbeit auch immer – haben den Punktwert X. Die „Arbeitswertpunkte“ werden nach „Anforderungsmerkmalen“ wie z. B. „Können“, Arbeits-/Fachkenntnisse, Jahre der Berufs-, Fachhochschul-, Uniausbildung und Erfahrung (sie gehören zum Wert der Arbeitskraft) festgelegt und den „Arbeitsaufgaben“ zugeordnet. Ihre Anzahl entscheidet dann über die jeweilige Entgeltgruppe. Die „Punktwerte“ sind z.B. im IGM Bezirk NRW nach der „ERA Anlage 1b – Punktbewertungsbogen zur Bewertung von Arbeitsaufgaben“, in Bewertungsstufen eingeteilt.

Mit einer „Punktspanne“ von 10 bis 15 Punkten landen die Arbeiter hierbei in der Entgeltgruppe 1 (ERA NRW hat 14 Entgeltgruppen). Bewertet werden damit „Arbeitsaufgaben“ mit einer Anlernzeit von einer Woche (Die Anlernzeiten liegen zwischen einer Woche und einem Jahr). In Geld ausgedrückt gibt es dafür ein momentanes „Monatsgrundentgelt“ von 1.799 Euro. Die höchste Stufe – Entgeltgruppe 14 – wird mit 143 bis 170 Punktwerten bei z. Z. 3.704 Euro mtl. im 1. Beschäftigungsjahr erreicht.

20 Punkte fürs Denken – „da steht dir der Verstand still!“

Welche Blüten die „Bewertung der Arbeit“ treibt, kommt in einem von der IGM Baden-Württemberg entwickelten „Stufenwertzahlverfahren“ zur „Festlegung von Wertzahlen (Punkte/Arbeitswerte)“ zum Ausdruck. Die „Tarifexperten“ haben hierbei „Denken“ in den Katalog ihrer Bewertungsmerkmale aufgenommen. Dafür haben gibt es maximal 20 „Punkte/Arbeitswerte“, ganz schön mickrig. Wie das Denken zum Einsatz kommt, wird in einer Zusammenfassung zum „Stufenwertzahlverfahren“ festgestellt: „Eine Anforderung wird erfüllt, wenn man etwas weiß oder kann und dieses Wissen und Können über Denken im Rahmen eines Handlungsspielraumes zusammen mit anderen (Kommunikation) in Arbeitsergebnisse umsetzt!“ (ERA-Foliensatz, IGM Bezirk Baden Württemberg)[7]

Es wird nicht erläutert, was sich die Verfasser dieser Zeilen beim Denken gedacht und wie viel „Arbeitswerte“ sie sich dafür gut geschrieben haben. Möglicherweise befürchten sie, dass die Kapitalisten es evtl. doch mit Affen versuchen und wollen dem mit 20 Punkten fürs „Denken“, als etwas typisch menschlichem, einen Riegel vorschieben. Jedenfalls haben sie nicht geklärt, wie „Wissen“ und „Können“ ohne „Denken“ zustande kommen und zu „Arbeitsergebnissen“ führen soll. Dafür lässt ihre Punktbewertung darauf schließen, dass sie davon ausgehen, dass „Denken“ je nach „Arbeitsanforderung“ dosiert, sozusagen kontrolliert ein- und bei Erreichen der notwendigen Punktzahl – höchstens 20 – ausschaltbar ist. Dazu passen Aussprüche wie, „da steht dir der Verstand still!“ und „das ist eine Arbeit, da brauchst du nicht bei zu denken“ oder ähnliche.

ERA gegen „Unternehmerwillkür“?

Nach den Aussagen des „Tarifexperten“ Sadowsky sorgt ERA mit dafür, „dass es einen tarifvertraglichen Minimalanspruch auf X Euro pro Stunde für die jeweilige Arbeit gibt. Außerdem soll es „unternehmerische Willkürakte“ verhindern. Man könnte jetzt sagen, was soll denn das Gerede vom Wert der Arbeitskraft? Wenn unsere „Arbeitsbewertungssysteme“ der „Lohnfindung“ und insbesondere der Absicherung der Löhne dienen, dann lass es uns machen. Aber wie sieht es mit Verhinderung von Unternehmerwillkür und Absicherung der Löhne aus? Nach dem Tarifvertrag bestimmen die Kapitalisten zunächst die Zahl der so genannten „Arbeitswerte“ für die Neueingruppierungen in die vereinbarten „Entgeltgruppen“.

Wer sich auf der„Rutschbahn“ des ERA befindet

In einer Untersuchung über die Umsetzung des ERA von Reinhard Bahnmüller und Werner Schmidt heißt es u. a.: „Welche Beschäftigtengruppen zu den ,Gewinnern’(,Unterschreiter’) und den relativen ,Verlierern’(,Überschreiter’) der ERA-Einführung gehören, lässt sich derzeit nur sehr vorläufig beantworten..….Unseren bisherigen Befunden für den Tarifbezirk Baden-Württemberg zufolge, werden, wie intendiert, qualifizierte Facharbeitertätigkeiten in der Produktion und in den produktionsnahen Bereichen am häufigsten höher bewertet….Zu höheren Bewertungen anderer Beschäftigtengruppen bzw. deren Tätigkeiten, etwa technischen, kaufmännischen, Un-/Angelerntentätigkeiten in der Produktion oder indirekten Funktionen oder Verwaltungs- und Sekretäriatstätigkeiten, kommt es eher selten.

Den Aufwertungen stehen Abwertungen gegenüber. Sie betreffen teilweise dieselben Gruppen, bei denen es auch zu höheren Bewertungen kommt, etwa Facharbeitertätigkeiten. Facharbeit aufzuwerten gehört zwar zu den beidseitig formulierten Zielen des ERA, gleichzeitig ist jedoch eine Auseinandersetzung darüber entbrannt, was unter Facharbeit zu verstehen ist. In knapp 30% der Betriebe berichten die Betriebsräte über niedrigere Bewertungen bei dieser Gruppe. Am häufigsten abgewertet werden jedoch Tätigkeiten im kaufmännischen Bereich, Verwaltungs- und Sekretariatstätigkeiten, Un- und Angelerntentätigkeiten in der Produktion und in indirekten Bereichen sowie technische Tätigkeiten, insbesondere solche, bei denen ehemals besondere Arbeitsmarktengpässe bestanden (z. B. IT-Beschäftigte).

Tätigkeitsbereiche, in denen es häufiger zu niedrigeren Bewertungen kommt, sind mit denen, in denen der Anteil der ‘Überschreiter’ besonders hoch ist, weitgehend, aber nicht komplett identisch. Die von uns befragten Betriebsräte nennen vor allem fünf Bereiche, in denen sich der Anteil der ,Überschreiter’ verdichtet: Tätigkeiten von qualifizierten kaufmännischen aber auch technischen Angestellten, Angelerntentätigkeiten in der Produktion, einfache Tätigkeiten im kaufmännischen Bereich sowie Verwaltungs- und Sekretariatsfunktionen. Überdurchschnittlich viele ,Überschreiter’ gibt es zudem unter den älteren Beschäftigten, bei denen sich Beschäftigungsdauer und Loyalität in einer überdurchschnittlich guten Eingruppierung niedergeschlagen hatten. Eindeutige Belege für eine geschlechtsspezifische Verteilung haben wir bisher nicht gefunden.

Wie das Verhältnis von ,Unterschreitern’ und ,Überschreitern’ nach Abschluss der Einführung sein wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Nach dem, was wir bisher sehen, halten sich beide Gruppen in etwa die Waage ... Dennoch wird der Anteil der ,Überschreiter’ voraussichtlich höher liegen, als es die IG Metall erwartet hatte.“

(Reinhard Bahnmüller/Werner Schmidt, Der ERA-Tarifvertrag und seine Umsetzung, Erfahrungen aus Baden Württemberg)

Haben die Arbeiter ihre Arbeitskraft zu teuer verkauft?

Offensichtlich scheint das die Auffassung in bestimmten Funktionärskreisen in der IGM zu sein. Anders lassen sich die im ERA-Tarifvertrag mit den Kapitalisten vereinbarten Lohnkürzungen kaum erklären. Gleiches gilt für dazu gemachte Aussagen. So wird z. B. IGM-Vorsitzender Huber in einer Fußnote des obigen Untersuchungsberichts wie folgt zitiert: „In einigen Bereichen und Betrieben, nicht nur in der Automobilindustrie, hätten sich über die Jahre hinweg Eingruppierungen nach oben entwickelt, teilweise so weit, dass sie ,durch die alten Eingruppierungstexte nicht mehr abgedeckt waren’(Huber 2006, S. 12). Die Arbeitgeber versuchten nun, die Gelegenheit zu nutzen, verlorenes Terrain wieder zurückzugewinnen, was ihnen durch pure Anwendung der ERA-Regelungen teilweise auch gelingen könnte, da sich mit diesen ,dieses Zurückdrehen nicht immer vollständig ausgleichen’ ließe. Er hofft auf einen begrenzten Rückbau und darauf, das ERA, ,einmal umgesetzt (…) die Chance neuer entgeltbezogener Entwicklungsmöglichkeiten’ eröffne.“

Was der IGM-Vorsitzende hier den IGM-Mitgliedern verklickert, muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Jede Kollegin und jeder Kollege weiß, dass sich „Eingruppierungen“, was gleichbedeutend ist mit Löhnen und Gehältern, nicht von allein nach oben entwickeln. In aller Regel sind sie das Ergebnis zäher Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit den Kapitalisten im Betrieb. Gelingt es hierbei Betriebsräten und Belegschaften - wie von Huber festgestellt - tarifvertragliche Grenzen nach oben zu verschieben, mit anderen Worten ausgedrückt, ihre Arbeitskraft teurer zu verkaufen, ist das Ausdruck des betrieblichen Kräftverhältnisses. Das entscheidet dann auch darüber, ob die Arbeitslöhne, die Lohngruppen in der Höhe „gesichert“ werden können oder nicht (was ja bis zur Umsetzung von ERA der Fall war). Hierbei gilt dann ebenso die gewerkschaftliche Forderung: „Rechtsfortschritt (in diesem Fall Lohnfortschritt) durch gewerkschaftliche Gegenmacht!“ Eine Forderung, die bis heute zu Gewerkschaftstagen, -Konferenzen und in Gewerkschaftsschulungen mit dem Ziel vertreten wird: Kampfergebnisse durch Tarifvertrag oder Gesetz festzuschreiben und dadurch nach Möglichkeit zum Rechtsfortschritt für alle Lohnabhängigen zu machen.

Damit hat der IGM-Vorsitzende bei seinen o.g. Aussagen allerdings nichts im Sinn. Was er den Kolleginnen und Kollegen zu sagen hat, heißt nichts anderes als Pech gehabt! „Ihr habt eure Arbeitskraft „teilweise“ so teuer verkauft, dass der Lohnfortschritt durch „die alten Eingruppierungstexte nicht mehr abgedeckt“ ist! Das ist das Dilemma der Eingruppierungstexte. Mit ihnen lässt sich der Wert der Arbeitskraft nicht durchsetzen! Auch mit den neuen nicht. Das muss auch Huber zugeben. Wie er feststellt, ist durch „die pure Anwendung der ERA-Regelungen“, die Sicherung der Arbeitslöhne nicht in allen Fällen möglich. Hierbei „hofft“ er „auf einen begrenzten Rückbau“. Im Klartext, der Gewerkschaftsvorsitzende „hofft“ auf einen „begrenzten“ Abbau der Löhne und auf „die Chance neuer entgeltpolitischer Entwicklungsmöglichkeiten“ durch das ERA. In eine ähnliche Richtung gehen die „Hoffnungen“ von Bevollmächtigten und Sekretären der IGM. Sie wollen ebenfalls das Unmögliche möglich machen. „Überschreiter“, welche von den Betriebsräten nicht zu „Unterschreitern“ gemacht werden konnten bzw. beim gleichen Lohn zu halten waren, sollen bei den nächsten Tarifbewegungen wieder an den alten Lohn herangeführt werden.

Wie bitte, zuerst dem Kapital Teile von dem in die Taschen schieben, was „über die Jahre hinweg“ an Lohn und Lebensstandard erkämpft wurde und dann auf entgeltpolitische Entwicklungsmöglichkeiten hoffen? Beim Hirnriss dieser Argumente bleibt einem die Spucke weg. Die Kapitalisten werden sich bei diesen Aussichten erneut die Hände reiben und der IGM-Führung noch viele „Jahrhundertwerke“ unterschreiben. Für sie die Rechtsgrundlage zur Abgruppierung und Lohnkürzung bei Hunderttausenden, möglicherweise bei Millionen abhängig Beschäftigter in der Metall- und Elektroindustrie und das Beispiel für andere. Ohne ERA im Rücken hätten sie sich das nicht getraut. Das hätte sich voraussichtlich zum Großkonflikt mit der IGM entwickelt und die Lohnabhängigen in anderen Branchen gewarnt und wach gemacht.

Wenn sie es nicht bereits getan haben, könnten sie dabei z. B. vor allem den in unteren Entgeltgruppen eingestuften Arbeitern das o. a. „Denken“ streichen. Abgesprochen haben sie es ihnen schon immer. Neu daran ist nur, dass sie jetzt dafür Punkte es auf der Basis eines Tarifvertrages aushandeln. 20 Punkte weniger fürs „Denken“ sind u. U. schon eine „Entgeltstufe“ niedriger. Hierbei kann es dann so weit nach unten gehen, dass die „Arbeitsaufgabe“ zur reinen Dienstleistung „ohne Denken“ erklärt und damit zur Ausgliederung aus Betrieb und Tarifvertrag vorbereitet wird. Wenn sie Glück haben, landen die davon Betroffenen dann mit wesentlich weniger „Entgelt“ in einem von den Gewerkschaftsführungen als neues „Produkt“ angebotenen „Dienstleistungstarifvertrag“. Die Kapitalisten von Südwestmetall haben bereits erklärt, dass sie dieses Ziel insbesondere im Angestelltenbereich u. a. mit Hilfe von ERA verfolgen (s. KAZ 320).

Wer will sie also daran hindern, so zu verfahren? Die oben beschriebenen „neuen Bewertungssysteme“ liefern ihnen dafür fast lückenlos alle notwendigen Fakten. Speziell dafür ausgerüstete Kommissionen und/oder Arbeitskreise, bestehend aus Ingenieuren, Technikern und hoch qualifizierten Facharbeitern, brauchen dann nur noch darauf angesetzt zu werden. Die legen dann fest, mit welchen Mitteln und Methoden, z.B. dem Einsatz modernster Technik, „kontinuierlichen Verbesserungsprozeß“ (KVP) u. a. Arbeiten vereinfacht und dadurch „Arbeitswerte“, Anlernzeiten, Qualifikationen und die entsprechenden Entgeltgruppen angegriffen und reduziert werden können (s. Beispiel Crailsheim). Mit einem Missbrauch hat das nichts zu tun, so wie das von der IGM-Führung immer noch verkündet wird und das auch die Crailsheimer Kollegen vertreten. Das ERA und ähnliche Tarifverträge (z. B. TVöD) eröffnen den Kapitalisten ganz einfach die Möglichkeit so zu handeln. Mit ihren „Arbeitsbewertungssystemen“ blenden sie vollkommen aus, dass mit dem Lohn die Kosten gedeckt werden müssen, um den Wert der Arbeitskraft zu erhalten und zu reproduzieren. Hierbei geht es ebenso um die Erhaltung und Verteidigung des momentanen durchschnittlichen Lebensstandards. Das, was sich die Lohnabhängigen als Anteil an ihrem eigenen Arbeitsprodukt von den Kapitalisten erkämpft haben. Dazu gehören nicht nur die notwendigen und absolut unentbehrlichen „Lebensmittel“, „Bedarfsgegenstände“ usw., sondern auch die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. So der Besuch kultureller Veranstaltungen, wie Theater- und Kinobesuch, der ganze Freizeitbereich u. a., gemessen an den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie in unserem Fall in der BRD gewachsen sind.

„Die klassische Ökonomie hatte sich in eine Sackgasse festgerannt.“

In der Einleitung zur Schrift Lohnarbeit und Kapital von Karl Marx, stellt Friedrich Engels fest:

Wir mögen uns drehen und wenden, wie wir wollen, wir kommen nicht heraus aus diesem Widerspruch, solange wir vom Kauf und Verkauf der Arbeit und vom Wert der Arbeit sprechen. Und so ging es den Ökonomen auch. Der letzte Ausläufer der klassischen Ökonomie, die Ricardosche Schule, ging großenteils an der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zugrunde. Die klassische Ökonomie hatte sich in eine Sackgasse festgerannt. Der Mann, der den Weg aus dieser Sackgasse fand, war Karl Marx.

Was die Ökonomen als die Produktionskosten „der Arbeit“ angesehn hatten, waren die Produktionskosten nicht der Arbeit, sondern des lebendigen Arbeiters selbst. Und was dieser Arbeiter dem Kapitalisten verkaufte, war nicht seine Arbeit. „Sobald seine Arbeit wirklich beginnt“, sagte Marx, „hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden.“ Er könnte also höchstens seine künftige Arbeit verkaufen, d. h. die Verpflichtung übernehmen, eine bestimmte Arbeitsleistung zu bestimmter Zeit auszuführen. Damit aber verkauft er nicht Arbeit (die doch erst geschehen sein müsste), sondern er stellt dem Kapitalisten auf bestimmte Zeit (im Taglohn) oder zum Zweck einer bestimmten Arbeitsleistung (im Stücklohn) seine Arbeitskraft gegen eine bestimmte Zahlung zur Verfügung: Er vermietet resp. verkauft seine Arbeitskraft. Diese Arbeitskraft ist aber mit seiner Person verwachsen und von ihr untrennbar. Ihre Produktionskosten fallen daher mit seinen Produktionskosten zusammen; was die Ökonomen die Produktionskosten der Arbeit nannten, sind eben die des Arbeiters und damit die der Arbeitskraft. Und so können wir auch von den Produktionskosten der Arbeitskraft auf den Wert der Arbeitskraft zurückgehn und die Menge von gesellschaftlich notwendiger Arbeit bestimmen, die zur Herstellung einer Arbeitskraft von bestimmter Qualität erforderlich ist, wie dies Marx im Abschnitt vom Kauf und Verkauf der Arbeitskraft getan hat

(„Kapital“, Band I, Kapitel 4, 3. Abteilung 2). (MEW Bd.22, S. 206 f.)

Wie viel sich der Einzelne davon leisten kann, ist abhängig von der Lohnhöhe in den unterschiedlichen Branchen, in den Industrie- und Handwerkwerksbetrieben, von Tarifverträgen, von der ständig abnehmenden Tarifgebundenheit der Kapitalisten u. a. Dabei ist davon auszugehen, dass auch die Tariflöhne im Bereich von 4 Euro (Friseurhandwerk Sachsen 3,82 Euro) bis 10 Euro Stundenlohn (Nähen in Bayern o. Unterfranken 10,05 Euro) unter dem Wert der Arbeitskraft liegen. Was für die Betroffenen bedeutet, sie können sich immer weniger von dem leisten, was zu den Dingen des täglichen Bedarfs gehört. Dabei haben viele schon den Kinobesuch, und was noch viel schlimmer ist, das „Kinderkriegen“ für sich gestrichen. Die Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise stellt ab auf Vereinfachung der Tätigkeiten und nicht auf Anhebung, sondern auf Senkung der Löhne. Das Kapital wird in diesem Sinne seine Versuche, auch die niedrigsten Arbeitslöhne weiter zu drücken, nicht einstellen. In seinem oben zitierten Rundschreiben stellt „Tarifexperte“ Sadowsky fest, der Minimalanspruch auf einen bestimmten Stundenlohn, hätte sich mit den alten Tarifverträgen nicht mehr in allen Fällen ausreichend begründen lassen. Der Minimalanspruch ist der Wert der Arbeitskraft. Aber davon steht im ERA nichts. Wie ähnliche Tarifverträge geht es nur von „Arbeitsbeschreibungen und -bewertungen“ statt vom Wert der Arbeitskraft aus. Auf diesem Wege wirkt sich das ERA zur Unterstützung des so genannten „Niedriglohnsektors“ aus und wird zur gefährlichen Rutschbahn nach unten. Je geringer der so genannte „Wert“ der „Arbeitsaufgabe“ ist, umso weniger gibt’s zu essen. Die nebenstehenden Berichte über die Umsetzung des ERA (Bahnmüller/Schmidt) und über die „Erosion der Mittelschicht“ zeigen, welche Berufsgruppen sich hierbei bereits auf der Rutschbahn befinden und, dass es dabei nicht mehr nur um untere „Entgeltgruppen“ geht.

Die Produktionskosten der einfachen Arbeitskraft belaufen sich also auf die Existenz- und Fortpflanzungskosten des Arbeiters. Der Preis dieser Existenz- und Fortpflanzungskosten bildet den Arbeitslohn. Der so bestimmte Arbeitslohn, heißt das Minimum des Arbeitslohns. Dieses Minimum des Arbeitslohns gilt, wie die Preisbestimmung der Waren durch die Produktionskosten überhaupt, nicht für das einzelne Individuum, sondern für die Gattung.

Die unterste Grenze des Werts der Arbeitskraft

„Die letzte Grenze oder Minimalgrenze des Werts der Arbeitskraft wird gebildet durch den Wert einer Warenmasse, ohne deren tägliche Zufuhr der Träger der Arbeitskraft, der Mensch, seinen Lebensprozess nicht erneuern kann, also durch den Wert der physisch unentbehrlichen Lebensmittel. Sinkt der Preis der Arbeitskraft auf dieses Minimum, so sinkt er unter ihren Wert, denn sie kann sich nur in verkümmerter Form erhalten und entwickeln. Der Wert jeder Ware ist aber bestimmt durch die Arbeitszeit, die erfordert ist, um sie in normaler Güte zu liefern.

(Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd.23, S.187)

Einzelne Arbeiter, Millionen von Arbeitern, erhalten nicht genug, um existieren und sich fortpflanzen zu können; aber der Arbeitslohn der ganzen Arbeiterklasse gleicht sich innerhalb seiner Schwankungen zu diesem Minimum aus.“[8]

Diesem Zustand, dass Millionen von Arbeitern nicht mehr genug haben, um leben und sich Kinder „leisten“ und groß ziehen zu können, nähert sich die Situation in diesem Lande immer mehr an. So heißt es z. B. in der SZ vom 14. März 2008: „Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung zahlen Bund, Länder und Kommunen Tausenden Beschäftigten so niedrige Gehälter, dass diese zusätzlich zu ihrem Lohn Hartz-IV-Leistungen benötigen. Im öffentlichen Dienst sowie in angrenzenden Bereichen, von denen einige inzwischen privatisiert sind, arbeiten 180.000 Menschen, deren Verdienst zum Leben nicht reicht. Darunter sind fast 33.000 Lehrer und Erzieher, die trotz eines regulären Jobs auf Hartz IV angewiesen sind.“ Dabei scheint es sich durchzusetzen, die besonders gebeutelten auch mit besonderen Namen zu bedenken. So wie das ERA seine „Überschreiter“ hat, gibt es in den o. a. Bereichen die so genannten „Aufsto­cker“. Das sind diejenigen, die ihre Löhne beim Mini- oder Teilzeitjob mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen, um leben zu können. Lt. SZ arbeiten davon alleine im Sozialwesen 120.000.

„Jeder Fünfte ist Niedriglöhner“:

Unter dieser Überschrift heißt es in der Metallzeitung 3/2008 (S.7): „Rund 6,47 Millionen Menschen oder 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland waren im Jahre 2006 Niedriglöhner, belegt eine aktuelle Untersuchung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg Essen. Dabei hätten drei von vier Niedriglöhnern eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss.

Der Studie zufolge ist der Anteil der Niedriglöhner seit dem Jahr 1995 um 43 Prozent gestiegen, zwischen 2004 und 2006 sogar um über zehn Prozent. Damit habe die Bundesrepublik den höchsten Niedriglohnanteil unter den europäischen Ländern, außer Großbritannien. Der untere Rand weitet sich dabei deutlich aus. Hierzulande ist die Zahl der Beschäftigten mit Bruttostundenlöhnen bis zu fünf EURO von 1,5 Millionen in 2004 auf 1,9 Millionen in 2006 gestiegen. Für das IAQ ein ‚deutliches Zeichen, dass das Lohnspektrum in Deutschland nach unten ausfranst’.

Zum generellen Absinken der Löhne zählt ebenfalls die Tatsache, dass die durchschnittlichen „Reallöhne in der BRD 2007 zum vierten Mal in Folge gesunken sind.[9]

Das zeigt in aller Deutlichkeit, dass es in dieser Situation hauptsächlich darum geht, diese Talfahrt der Arbeitslöhne zu stoppen und das Erreichte, den momentanen Lebensstandard, gegen die Angriffe von Kapital und Regierung zu verteidigen. Das ist vor allen Dingen Aufgabe der Gewerkschaften, deren Führungen häufig genug den notwendigen Kampf, die Streiks abwürgen, hintertreiben oder es erst gar nicht dazu kommen lassen. Letztendlich stellt sich der Wert der Arbeitskraft, der Lebensstandard, den sich die Lohnabhängigen leisten können, immer nur im Kampf zwischen Arbeiterklasse und Kapitalisten heraus. Dabei entscheidet das Kräfteverhältnis darüber, was beim „Feilschen“ (Engels, siehe unten) an Lohnhöhe herauskommt. Was sich die Arbeiter als Anteil an ihrem eigenen Produkt („den Teil, den man den Lohn nennt“, Engels, siehe unten) erkämpfen können. Das gilt auch für den einzelnen Betrieb. Die momentane Lohnhöhe zeigt auf, was sich die jeweilige Belegschaft an Lohngruppen, Akkordlohnhöhe usw. – egal wie auch immer – in der Auseinandersetzung mit dem Kapital als Preis für die Arbeitskraft und damit an momentanem Lebensstandard erkämpft hat. Schließlich wird davon auch die gesellschaftliche Durchschnittshöhe der Löhne bestimmt.

„Die durchschnittliche Lohnhöhe entspricht der Summe der notwendigen Bedarfsgegenstände, die zur Erhaltung und Fortpflanzung der arbeitenden Bevölkerung eines Landes entsprechend dem in diesem Lande üblichen Lebensstandard ausreichen. Dieser Lebensstandard kann für verschiedene Schichten der Arbeiter sehr verschieden sein. (...)

Die Löhne werden in jedem Fall durch Feilschen festgesetzt, und beim Feilschen hat der, welcher am längsten und wirksamsten Widerstand leistet, die größte Aussicht, mehr zu erhalten, als ihm zusteht...“[10]

Gibt es einen besseren Vorschlag für einen Tarifvertrag?

Tarifverträge sollen Lohn- und Arbeitsbedingungen für eine bestimmte Zeit sichern. Sollen – aber sie tun es nicht. Denn innerhalb des vereinbarten Zeitraums – z.B. in einem Jahr – können die Kapitalisten (oder ihre Beauftragten) mit der Anschaffung neuer Maschinen und generell dem Einsatz moderner Technologie die Arbeitskraft entwerten. Sie können die Arbeit intensivieren, den Arbeitstag – mit oder ohne Entlohnung – verlängern, die Löhne durch „Outsourcing“, „Leiharbeit“ etc. drü­cken. ERA ist nur ein neuerlicher, zum Scheitern verdammter Versuch, angesichts der technischen Entwicklung einen „gerechten Lohn“ zu „sichern“, um damit den Kapitalismus für alle Beteiligten wieder etwas akzeptabler zu machen. Aber wie wir in diesem Artikel gezeigt haben, gibt es weder Gerechtigkeit noch Sicherheit. Die Tatsache der kapitalistischen Ausbeutung, d.h. die Tatsache, dass ein Teil unserer Arbeit unbezahlte Arbeit für die Kapitalisten ist, lässt sich durch keinen Tarifvertrag aus der Welt schaffen. Und kein Tarifvertrag schützt uns vor Massenerwerbslosigkeit und daraus resultierender Lohndrückerei. Nun bedeutet ja ERA ohnehin schon für einen großen Teil der Kolleginnen und Kollegen Lohnsenkung (für einen anderen wiederum kurzfristig Lohnsteigerung), und dadurch wird die Spaltung und Konkurrenz unter den Arbeitern auch noch verschärft. Etwas anderes war bei einer „Anpassung an die neuen Bedingungen“ auch gar nicht zu erwarten – weil sich im Kapitalismus jeder technische Fortschritt nun mal gegen die Arbeiter richtet. Anpassung an die neuen Bedingungen, an den technischen Fortschritt, das wäre für uns Arbeitszeitverkürzung, planmäßige Produktion für unsere Bedürfnisse statt dass man uns noch Handys mit Wasserspülung aufschwätzt, Arbeit für die Menschheit statt für Profit und Krieg.

Kauf und Verkauf der Arbeitskraft

In seinem Werk „Das Kapital“ Bd. 1 stellt Karl Marx unter o. g. Überschrift zum Wert der Arbeitskraft u. a. Folgendes fest:

„Der Wert der Arbeitskraft, gleich dem jeder anderen Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit. Soweit sie Wert, repräsentiert die Arbeitskraft selbst nur ein bestimmtes Quantum in ihr vergegenständlichter gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit. Die Arbeitskraft existiert nur als Anlage des menschlichen Individuums. Ihre Produktion setzt also seine Existenz voraus. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eigenen Reproduktion oder Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel. Die Arbeitskraft verwirklicht sich jedoch nur durch ihre Äußerung, betätigt sich nur in der Arbeit. Durch ihre Betätigung, die Arbeit, wird aber ein bestimmtes Quantum von menschlichem Muskel, Nerv, Hirn usw. verausgabt, das wieder ersetzt werden muss. Diese vermehrte Ausgabe bedingt eine vermehrte Einnahme. Wenn der Eigentümer der Arbeitskraft heute gearbeitet hat, muss er denselben Prozess morgen unter denselben Bedingungen von Kraft und Gesundheit wiederholen können. Die Summe der Lebensmittel muss also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw. sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigenschaften eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnittsumkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.“ (Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 184/185)

Unser besserer Vorschlag ist deshalb nicht ein Entwurf für noch einen anderen Tarifvertrag, sondern: Erkämpfen, was sich nur erkämpfen lässt, ohne Rücksicht auf das „Funktionieren“ dieser kapitalistischen Gesellschaft! Einig gegen Lohnraub und Entrechtung!

Das ist das Mindeste. Auch wenn es nicht ausreicht, es muss sein, damit immer mehr Arbeiter durch den eigenen Kampf zu der Erkenntnis kommen können: „... nicht hoher oder niedriger Lohn bestimmt die wirtschaftliche Erniedrigung der Arbeiterklasse: dieser Erniedrigung liegt die Tatsache zugrunde, dass die Arbeiterklasse, statt für ihre Arbeit das volle Arbeitsprodukt zu erhalten, sich mit einem Teil ihres eigenen Produkts begnügen muss, den man Lohn nennt. Der Kapitalist eignet sich das ganze Produkt an (und bezahlt daraus den Arbeiter), weil er der Eigentümer der Arbeitsmittel ist. Und darum gibt es keine wirkliche Befreiung der Arbeiterklasse, solange sie nicht Eigentümerin aller Arbeitsmittel geworden ist – des Grund und Bodens, der Rohstoffe, der Maschinen etc. – und damit auch Eigentümerin des vollen Produkts der eigenen Arbeit.[11]

Arbeitsgruppe „Stellung des Arbeiter
in der Gesellschaft heute“

1 Junge Welt, 01.02.2008, S.4

2 Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd. 23, S.188

3 In den Großbetrieben, in denen mit modernsten Produktionsmitteln gearbeitet wird, ist diese zur Herstellung des Werts der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit wesentlich kürzer.

4 In den Tarifverträgen werden Überstunden von der Gewerkschaftsführung fälschlicherweise als Mehrarbeit bezeichnet.

5 Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW Bd.16, S.133

6 Karl Marx, Das Kapital Bd.1, MEW Bd.23, S.559

7 Siehe http://www.bw.igm.de/news/meldung.html?id=6042

8 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW Bd. 6, S. 406

9 WSI Tarifbericht 2007

10 Friedrich Engels, Das Lohnsystem, MEW Bd. 19, S. 252

11 Friedrich Engels, Das Lohnsystem, MEW Bd. 19, S. 253

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