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Für Dialektik in Organisationsfragen

„Diese Grenze wurde aufgehoben, damit wir gemeinsam wieder in den Krieg ziehen“

Bericht zur Aktion des Unentdecktes Land e.V. und der Berliner Gewerkschafter bei Secarts.org am 3.10.2015 in Berlin

Marx bemerkte irgendwo, dass die Lumpenbande des Louis Napoleon, die „Gesellschaft des 10. Dezember”, die ihm nützliches Volk schauspielerte und politische Gegner vermöbelte, mit Schnaps und Wurst zusammengekittet werden musste. Marx hat vergessen, hinzuzufügen, dass eine französische Farce immer noch durch eine bundesdeutsche Groteske zu steigern geht. Bund und Länder müssen nämlich auch, wie Marx es ausdrückte, „stets von neuem mit der Wurst werfen”: nach der „Gesellschaft des 3. Oktober 1990”, die sie gern hätten und insbesondere in Berlin doch nicht wirklich und vor allem nicht widerspruchslos zusammengetrommelt kriegen.


Natürlich jammern die Amtsschimmel der deutschen Bourgeoisie in all ihrer Feiertagsstimmung über mangelnden Patriotismus, über den kalten Aktentag 3.Oktober, der die einheitsdeutschen Herzen nicht noch mehr zu erwärmen vermag, über die Undankbarkeit der Welt und des Volkes, die sich nicht genauso europaweit pudelwohl fühlen wie die Bourgeois. Und gewiss sind die Teilnehmerzahlen vom Staatsfest von 1990 unerreicht, und das jährliche Feuerwerk am Brandenburger Tor in Berlin ist bei näherer, rückwirkender Betrachtung, im Katzenjammer nach dem staatssubventionierten Besäufnis, so Schall und Rauch wie all der „Aufschwung Ost”.


Doch mit dem alljährlichen Geblase zum Aufmarsch der Annexionisten, kaum verhohlen als Bratwurstfest für biedre Bürgersleut, hat sich die bundesdeutsche Staatsmaschine allmählich jene bunte Manövriermasse zurechtgekittet, die als „Gesellschaft des 3.Oktober” lebendig beweisen soll, welch Pracht und Eierkuchen-Eintracht im Lande herrscht. Wie bemüht und kostenintensiv und widersprüchlich auch immer – sie lässt sich schon vorführen, mobilisieren, abrufen mit Kasernenhof-Pünktlichkeit, die gute Stimmung, die es auch für die nächste Annexion und den nächsten Krieg brauchen wird. Ein Nur-Bratwurstfest kann es im Imperialismus auch gar nicht geben, und namentlich die deutsche Bratwurststimmung ist weltbekannt dafür, immer nur der ankündigende Zipfel zu sein – vom Fleischberg des Weltkriegsschlachtens.
Während nun eine Sektion der „Gesellschaft des 3. Oktober” durch die sogenannten Bundesländer tourt und etwa dieses Jahr Frankfurt am Main mit Regierungsstaffage und entsprechenden Sonntagsdrohungen heimsuchte, lässt sich die Berliner Sektion nicht lumpen, sich jedes Jahr veritabel herzuzeigen. Und man lässt es sich was kosten, gibt nebst Umtrunk einen Kultürlichen aufs Volkeswohl aus. Udo Lindenberg etwa kostet doch sonst 75 Eus die Karte! Und ist am 3. Oktober für die schlanke Gratis-Null zu haben, die der ganze Einheits-Bardenhain wert ist, dem er angehört?! Und auch sonst einfach noch mal BockiBautzeBemmeBierchen in die letzten Sommersonnenstrahlen zu heben, ist eine gute Familiengelegenheit – Deutschlandwimpel nu hin oder her.


So findet ein jedes Menschenkind und kaum etwa nur der Bilderbuchnazi bessre oder miesere Gründe, den 3. Oktober doch „auf der Straße” zu feiern, die freilich zum Schaufenster neugroßdeutscher Herrlichkeit dekoriert ist: mit Infoständen solch vertrauensstiftender Bundes- und Landesbehörden wie Bundeswehr, Polizeien, Bundestag, neuerdings sogar Bundesnachrichtendienst per „Bürgernähen”-Offensive.

Die mannigfaltige Publikumsmasse dieses Staatsspektakels – kaum nazistisch, aber doch kaum antifaschistisch; viele Ossis, aber auch viele Wessis; viele Touris, viele Westdeutsche, viele Lumpen; irgendwie alles und nichts – galt es zu agitieren, gegen den Volksgemeinschaftsweihrauch wenigstens signalweise zersetzend anzublasen, dem Einheitsdusel einen konzentrierten Widerspruchspunkt aufzunötigen.


Unsere Hauptlosung zum 3. Oktober leistete nicht mehr und nicht weniger als das. Sie ergibt sich aus dem Kräfteverhältnis, dass die Kräfte für ein dezidiertes Gegen-Volksfest etwa zum 7. Oktober, zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, noch nicht wieder genügend erstarkt sind, als dass eine DDR-Beflaggung und eine offensivere DDR-Losung der finsteren Realität in beiden Ländern Rechnung tragen könnte. In diesem Sinne ist es eine gesamtdeutsche Losung, die sowohl Ossis als auch Wessis – allerdings als Ossis und Wessis – vor der falschen Einheit warnt, in die sie der westdeutschen Monopolbourgeoisie trotz mancher Nörgelei an diesem und jenem doch hinterhertaumeln.

Die Anmeldung einer ganztägigen Kundgebung am Pariser Platz (ostseitig des Brandenburger Tors) mit Großtransparent und Infotafeln wurde zwei Wochen vor dem 3.Oktober von der Polizeidirektion unter Berufung auf eine „Allgemeinverfügung”, die den Platz ab 14 Uhr für jegliche Öffentlichkeit sperrte, auf „bis 14 Uhr” eingeschränkt. Die mündliche Begründung lautete unter anderem dahin, dass die zu erwartenden Massenströme besser kanalisiert werden müssten als die letzten Jahre, und dass die Notstandsfahrzeuge besser aufrollen können, um die sich amüsierenden Festtags-Einheits-Deutschen davon abzuhalten, sich zu erschlagen oder totzusaufen oder beides (so hieß es sinngemäß – nicht explizit, aber auch nichts Anderes!). Diese „Allgemeinverfügung” wurde bewusst erst 7 Tage vor dem 3.Oktober veröffentlicht, um das Einlegen von Rechtsmitteln gegen sie zu erschweren, während die Polizeibüttel schon mal unter Berufung auf sie handelten. Als wir erfuhren, was das Anschieben einer Verfassungsbeschwerde mit wirksamem Aufschub gegen das Versammlungsverbot kosten würde, nahmen wir davon Abstand. Und als am Morgen des 3. Oktober auch noch technische Probleme hinzukamen, wichen wir schließlich vollends auf den Potsdamer Platz aus, der nur noch in mittelbarer Nähe zur üblichen Deutschlandfestmeile (auf der „Straße des 17.Juni 1953” natürlich) liegt.


Das Großtransparent war versehen mit 9 Infotafeln „Aus der Chronik des deutschen Militarismus nach 1989”, verziert mit 9 Übersetzungen der Hauptlosung. Daneben bauten wir mit den Berliner Gewerkschaftern bei Secarts.org einen “BRD-Pranger” bzw. eine “Westside Gallery”: drei Tafeln mit einer Sammlung von 250 reaktionären Zitaten aus 60 Jahren bundesdeutscher Politik, Wissenschaft und Kultur. Die Chronik und eine Zitatauswahl waren Infobeigaben zum Aufruftext, einer Flugschrift, die im Laufe des 3.Oktober von über 1000 Leuten von den Infoaufstellern genommen wurde. Rund 150  Zitathefte wurden gegen Spende ausgegeben.


Das Transparent war zweifellos trotz der gewissen Enge des Potsdamer Platzes der wesentliche Blickfang der Gegend. Regelmäßig bildeten sich Trauben von Passanten an den Infotafeln und der Zitatsammlung. Von einigen sehr wenigen Pöblern abgesehen nahmen die Passanten die Losung und das Faktenmaterial nachdenklich bis wohlwollend auf, teils auf dem Weg zum oder vom Deutschlandfest “auch mal kritische Worte anerkennend”, teils angeekelt von der außenpolitischen Entwicklung, zu einem kleinen, aber merklichen Teil auch aus einer durch Pegida und Co. vorgebildeten “BRD-Kritik”, die die BRD nur als “unsouveränen Vasall der USA” imaginiert. Viele fragten zaghaft verwundert bis naiv empört nach, ob wir denn zum Krieg aufriefen oder zu den reaktionären Zitaten stünden, und zeigten sich erleichtert, wenn wir die kritische Negativität des Materials erläuterten. Viele Touristen und nicht wenige Ossis und Wessis dankten uns mit Worten und Spenden für das Setzen eines Konterpunktes zu all der tierisch patriotischen Selbstherrlichkeit.
Auf dem Potsdamer Platz war für den 3. Oktober zunächst auch eine antirassistische Kundgebung angekündigt gewesen, auf der der antifaschistische Schutzwall mit dem heutigen imperialistischen Grenzregime via EU gleichgestellt werden sollte. Eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung mit den Demokraten, die das deutsche Grenzregime und Asylrecht bekämpfen und dafür bereit sind, in die Kostüme der vermeintlich freiheitsliebenden Mauereinreißer von 1989 zu schlüpfen und somit gleichsam die doppelte Tragödie zur doppelten Farce herunterzuspielen, blieb an dem Tag dann aus, weil die Kundgebung kurzfristig abgesagt wurde.


Dafür fand parallel zu unserer Aktion eine Aktion der Gruppe “Opfer der Agenda 2010” statt, die zwar auch durch Imitation der Maueropfer-Kreuze mit unpräzisen Vergleichsbildern operierte, im Übrigen aber die staatliche Verelendungspolitik durch die Hartz-Gesetze in all ihren brachialen Folgen für die Betroffenen geißelte und auch mit einer Zitatesammlung zu Arbeits- und Arbeitslosenhetze aufwartete. Es war eine gute spontane Aktionseinheit, in der wir eher die militärpolitischen Folgen und die Freunde von “Opfer der Agenda 2010” eher die sozialpolitischen Folgen der Annexion der DDR aufzeigten.

Durch das Abdrängen vom Pariser Platz auf den Potsdamer Platz war es der Stadt Berlin gelungen, ihr Imperialisten-Bierfest ziemlich zu pazifizieren, aber vom Rande desselben her winkte ganztägig effektvoll der Widerspruch zu einer “deutschen Einheit” auf Kosten und Knochen erst der Ossis, dann der anderen unterdrückten Völker und schließlich bekanntlich sogar der imperialistischen Konkurrenten. Und der 3. Oktober bleibt aller Voraussicht nach ein zentraler unter den nicht wenigen Tagen, an denen sich die neue deutsch-imperialistische Großmannssucht öffentlich bewurstet und bebiert und sonnt und sielt und brüstet und rüstet und – angreifbar macht.

Unentdecktes Land e.V.

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Das Transparent zum 3. Oktober 2015 auf dem Potsdamer Platz auf der Grenze zwischen Ost- und Westberlin – zwischen „Deutsche-Bahn-Tower” (mittig), dem nach dem Altnazi Otto Beis­heim benannten „Beisheim Center” (die zwei Gebäude rechts), Polizeifahrzeugen und „Mauer”-Gedenksteinen recht eingequetscht

Das Transparent zum 3. Oktober 2015 auf dem Potsdamer Platz auf der Grenze zwischen Ost- und Westberlin – zwischen „Deutsche-Bahn-Tower” (mittig), dem nach dem Altnazi Otto Beis­heim benannten „Beisheim Center” (die zwei Gebäude rechts), Polizeifahrzeugen und „Mauer”-Gedenksteinen recht eingequetscht

Eine der neun Infotafeln am Transparent mit einer Übersetzung der Losung (hier: niederländisch) und Fakten aus der Chronik des deutschen Militarismus seit 1989

Eine der neun Infotafeln am Transparent mit einer Übersetzung der Losung (hier: niederländisch) und Fakten aus der Chronik des deutschen Militarismus seit 1989

Publikum in Trauben

Publikum in Trauben

Zitatetafel mit reaktionären Zitaten, ursprünglich als Gegenschlag gegen die staatliche Werbekampagne „Du bist Deutschland” konzipiert

Zitatetafel mit reaktionären Zitaten, ursprünglich als Gegenschlag gegen die staatliche Werbekampagne „Du bist Deutschland” konzipiert

Auch an den Zitatetafeln steht bis zum späten Abend regelmäßig Publikum – teils sehr geduldig lesend und mehrheitlich entsetzt und angewidert über die deutschen Zustände

Auch an den Zitatetafeln steht bis zum späten Abend regelmäßig Publikum – teils sehr geduldig lesend und mehrheitlich entsetzt und angewidert über die deutschen Zustände

Das Transparent am 3. Oktober 2015 abends – von 13 Uhr steht es an diesem Tag bis 22 Uhr.

Das Transparent am 3. Oktober 2015 abends – von 13 Uhr steht es an diesem Tag bis 22 Uhr.